Mit dem Ableben von Kurt Masur wird er selbst von seinen ehedem bissigsten Kritikern zum Halbgott erhoben und in den ewigen Dirigentenhimmel versetzt. Andere bewerten nicht den Musiker, sondern den homo politicus, zu dem der heute verstorbene Künstler eher zwangsläufig geworden ist. Einige der Nekrologen sortieren ihn gewiss nach Ost-West-Schemata ein, erinnern an einen Autounfall, fragen nach staatlicher Nähe. Wer von ihnen wird dem Menschen Kurt Masur gerecht? Ich erlaube mir einen sehr persönlichen Rückblick.
Das wohl längste unserer Gespräche fand Ende 2012 statt. Da fanden wir noch einmal die Ruhe, sein Lebenswerk zu besprechen. Kurt Masur war zwar von Alter und Krankheit gezeichnet, bekannte sich aber zu beidem und sprach auch darüber. Im Konzert am Abend zuvor – Beethovens Sinfonien Nr. 4 und 5 standen auf dem Programm im Dresdner Schauspielhaus – verweigerte sich der Maestro großer Gesten, erwies sich mehr und mehr als Minimalist. Eine Geste hier, ein Andeuten da – die Musiker der Dresdner Philharmonie hatten verstanden. Der Effekt war enorm. Und das ausgiebige Schweigen des Publikums vor dem gewaltigen Beifall sprach Bände. Noch einmal: Man hatte verstanden. Masur erinnerte sich tags drauf, dass ihm Ähnliches in Dresden wiederholt begegnet sei: „Dieses totale Schweigen am Schluss der Konzerte. Da spürt man, dass es gelungen ist, die Menschen mitzunehmen in eine Welt, von der man manchmal glaubt, allein darin zu sein. Was für ein Glück, dass es doch mehr Menschen gibt, als man glaubt, die verstehen oder zu verstehen versuchen, was man ausdrücken möchte, das ist das schönste Gefühl überhaupt.“
Zwei Masur-Handschriften in einem Konzert
Was ihm da im Schauspielhaus widerfuhr, dem auch mit vielen musikalischen Erinnerungen verbundenen einstigen Großen Haus, das sei ihm in Dresden schon mehrmals passiert. Es beweise „die Ehrlichkeit des Zuhörens“. Die Menschen hätten gespürt, „dass sich das Orchester in einer Weise mit mir identifiziert, wie ich mich mit dem Orchester identifiziere“. Wenn diese „Gemeinsamkeit einer Interpretation“ vom Publikum so verstanden werde, dann seien alle „im selben Boot“ gewesen. Dennoch dürfte die Frage im Raum gestanden haben – und niemand hat sich getraut, sie laut auszusprechen –, warum er sich das immer noch antue? Kurt Masur, damals 85 Jahre alt, hatte erst kurz zuvor einen Bühnenunfall auskuriert, konnte längst auf verdienstvolle Beethoven-Zyklen verweisen, von denen der mit dem Leipziger Gewandhausorchester nur einer gewesen ist. 2003 wurde ein „neuer“ Beethoven-Zyklus mit dem Orchestre National de France erarbeitet („neu“, weil auf der kritischen Edition von Breitkopf & Härtel basierend), in der Zwischenzeit folgte ein weiterer mit dem London Philharmonic Orchestra – nun unterzog sich der Maestro noch einmal der Mühsal, alle neun Beethoven-Sinfonien quasi am Stück aufführen zu wollen. Erstmals in dieser neuen Edition mit einem deutschen Orchester, eben der Dresdner Philharmonie.
„Ich tue mir das doch nicht an,“ entgegnete der eingeschränkt rüstige Meister seinerzeit, das sei auch keine Strapaze für ihn, sondern – im Vergleich mit seinem früheren Arbeitspensum – eher eine „Ausruheposition.“ Es ist aber nicht mehr früher, das sah man, das hat man gespürt und das dürfte auch Kurt Masur selbst bemerkt haben. Auf Anraten seiner Ärzte bestritt er den ersten Abend als Artist in Residence gemeinsam mit seinem jüngsten Sohn Ken-David Masur. Der durfte Beethovens 2. Sinfonie leiten. Dem Vater oblagen die 1. sowie die 3. namens „Eroica“. Zwei verschiedene Masur-Handschriften in drei Beethoven-Sinfonien während eines Konzertes – das dürfte absoluten Seltenheitswert haben. Auch wenn es nicht ganz so spontan zustande gekommen war, wie es für das Konzertpublikum in Dresdens ausverkauftem Schauspielhaus den Anschein hatte: „Nein, das hat sich vorab schon ergeben, denn die Erfahrung lehrt, die drei ersten Sinfonien am Stück zu dirigieren, das geht an die Grenze der Möglichkeiten. Vor diesem Risiko haben mich die Ärzte gewarnt. Schon für einen jungen Dirigenten wäre das etwas Ungewöhnliches, aber für einen älteren wäre das einfach nicht klug.“ Die Hörerschar wusste es tief bewegt zu schätzen – nach dem Finale der 3. und tags drauf auch nach dem bewegenden Schluss der 5. Sinfonie herrschte wiederum dieses Schweigen im Saal. Der Meister verstand. Kurz darauf wiederholte sich eine vergleichbare Ergriffenheit auch in München. Aber auch da erklang schon nicht mehr der komplette Zyklus aller neun Sinfonien. Hatte er sich am Ende doch zu viel zugemutet?
Er habe Veranstalter bei Einladungen gerne gefragt: „Was erwartet ihr von mir?“ Und sich gefreut, wenn als Antwort kam: „Herr Masur, all das, was Sie zu geben in der Lage sind.“ Darin klang natürlich manchmal schon mit, ob er ans Aufhören denke. „Die Frage war für mich immer, wie lange willst Du dirigieren, so lange du kannst oder so lange du nützlich bist?“ Und er hatte auch eine Antwort darauf: „Ich bin noch ziemlich nützlich.“ Seine Parkinson-Erkrankung machte er vor drei Jahren öffentlich, „weil es immer mehr Vermutungen und Andeutungen in der Presse gab. Es gab einfach kleine Pannen bei mir, dass ich nicht genügend Reserven hatte, um so gut zu sein, wie ich wollte.“ Ein Sturz in Paris, bei dem er sich im April 2012 das Schulterblatt brach, zwang zu einer Pause, ein weiterer Sturz in Tel Aviv führte zu einem Hüftbruch und mehreren Operationen, von deren Folgen er sich nicht mehr so richtig erholte. Dennoch arbeitete Kurt Masur schon im Herbst 2013 wieder mit Nachwuchsdirigenten bei Meisterkursen auf Usedom und bekannte, auch von den jungen Dirigenten überrascht gewesen zu sein und von ihnen lernen zu können. Im September erhielt er in Peenemünde den Europäischen Kulturpreis der Kulturstiftung Pro Europa. In seiner Laudatio würdigte der Komponist Siegfried Matthus seinen langjährigen Freund und Musikerkollegen als „universellen Weltmusiker mit einer tiefen menschlichen Aufrichtigkeit“.
Mitunter war es erstaunlich, wo dieser Mann bis fast zuletzt noch die Kraft zum Arbeiten fand: „Die kommt aus der Musik“, sagte er mir, „ausschließlich aus der Musik. Als ich klein war, habe ich nur nach dem Gehör Klavier spielen gelernt. Irgendwann wurde ich gefragt, wer mein Klavierlehrer sei. Ich hatte keinen! Da bekam meine Mutter riesigen Ärger und musste mich umgehend zum Unterricht schicken. Ich liebte die Werke, die ich dirigiert habe, schon bevor ich sie dirigieren konnte. Bei manchen Kollegen ist es andersrum, die eignen sich ein Werk erst durch die Noten und bei der Arbeit an.“
Rekorde und Rückschläge
Kurt Masur ist von 1967 bis 1972 Chefdirigent der Dresdner Philharmonie gewesen, war von 1970 bis 1997 so lange wie niemand sonst Gewandhauskapellmeister in Leipzig, unternahm mit diesem Orchester rekordträchtige 900 Tournee-Konzerte, setzte den Neubau des 1981 eröffneten Neuen Gewandhauses durch und wirkte als Chefdirigent des New York Philharmonic Orchestra (1991 bis 2002), als Musikdirektor des London Philharmonic Orchestra (2000 bis 2007) sowie als Chef des Orchestre National de France (2002 bis 2008). Seine ersten Meriten jedoch erarbeitete sich der aufstrebende Dirigent in Halle, Erfurt, Leipzig und Schwerin. Die erste Chefposition führte ihn von 1958 für zwei Jahre ans Mecklenburgische Staatstheater, deren Staatskapelle er 2013 zum 450jährigen Bestehen noch einmal würdigende Worte vermachte. Auf die damalige Anstellung folgten vier Jahre an der Komischen Oper Berlin. Dass er 1972 seine zweite Ehefrau bei einem Autounfall verlor und von den Boulevardmedien nach 1989 immer wieder daran erinnert wurde, dürfte ein herber Rückschlag für ihn gewesen sein. Bis ganz zuletzt stand ihm die japanische Sopranistin Tomoko Sakurai zur Seite, mit der er seit 1975 in dritter Ehe verbunden war. Sie begleitete ihn bei allen Reisen und Konzerten, auch bei den letzten Auftritten, die er jedoch nie als Abschiedstour verstanden wissen wollte: „Das ist nicht so egoistisch. Ich will weder Abschied nehmen noch will ich vorausschauend sagen, ihr werdet mich dann und dann los oder ich gebe noch ein paar Jahre Abschiedskonzerte. Nein, das wäre totaler Blödsinn. Ich habe versucht, mein Leben einfach weiterzuführen. Dank meiner tapferen Frau ist mir das möglich, denn sie hat die Moral und auch die Kraft, in der zweiten Reihe zu stehen und mir soviel Energie und Liebe zu geben, dass ich dazu in der Lage bin.“
„Keine Gewalt!“
Tapfer ist Kurt Masur auch selbst gewesen. Nicht nur im Ringen um die jeweils bestmögliche Interpretation, wobei er sich beizeiten auch moderner Musik von Schostakowitsch bis Schnittke, von Matthus bis Marsalis verschrieb, nicht nur im Kampf um das Leipziger Gewandhaus, das maßgeblich seinem Insistieren zu danken ist, sondern auch im Herbst 1989. Zu einer Zeit, als niemand um den Ausgang der Leipziger Montagsdemonstrationen wissen konnte, erlaubte er sich folgenden Aufruf:
„Die Leipziger Bürger Prof. Kurt Masur, Pfr. Dr. Peter Zimmermann (Theologie), der Kabarettist Bernd-Lutz Lange und die Sekretäre der SED-Bezirksleitung Dr. Kurt Meyer, Jochen Pommert und Dr. Roland Wötzel wenden sich mit folgendem Aufruf an alle Leipziger: Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heute zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung. Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten heute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, dass dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird.“
Dieser Text wurde am 9. Oktober 1989 in den Friedensgebeten der fünf Kirchen verlesen und ab 18 Uhr, vorgetragen von Kurt Masur, im Stadtfunk verbreitet. Wie sehr er mit dazu beigetragen hat, dass an diesem Abend und auch danach kein Blut geflossen ist, wird nie mehr zu erfahren sein. Dieses Datum war ein Höhepunkt im Leben von Kurt Masur, gewiss. Aber es ist nicht der letzte geblieben. Der von Masur moderierte „Dialog am Augustusplatz“ schloss sich an, sowieso auch die Kür zum Bundespräsidenten; irgendwann ging es aber wieder ganz um die Sache der Kunst, um die Musik.
Bis zuletzt ist Kurt Masur ihr treu geblieben. Er ließ sich im Rollstuhl auf die Bühne schieben, achtete auf die Inhalte seiner Konzerte weit mehr als auf die Äußerlichkeiten, die von einem durch Alter und Arbeit gezeichneten Mann sprachen. Masur und die Musik, diese zwei Worte werden noch für eine ganze Weile als Synonyme herhalten müssen.
Kurt Masur, der am 18. Juli 1927 im schlesischen Brieg geboren wurde und an der Musikschule Breslau zunächst Klavier und Violoncello erlernte, studierte nach Kriegsende Dirigieren und Komponieren unter anderem bei Heinz Bongartz in Leipzig. Lange vor dem Mauerfall avancierte er zu einem international anerkannten und gefragten Künstler. Sein Wort galt insbesondere im Herbst 1989, als er bei den Montagsdemonstrationen zu Besonnenheit aufrief („Keine Gewalt!“) und eine maßgebliche Rolle im öffentlichen Dialog spielte. Erst relativ spät, das gab er zu, löste er sich von der Nähe zum Staat. „Ich war zu lange nur mit der Musik beschäftigt.“ Als aber Straßenmusiker in Leipzig festgenommen worden sind, da habe er nicht länger schweigend zusehen wollen. Jegliche Ambitionen, nach der politischen Wende hauptberuflich in die Politik zu gehen, wies der Ehrenbürger von Leipzig, der auch Ehrendirigent von Dresdner Philharmonie und Gewandhausorchester sowie Ehrengastdirigent beim Israel Philharmonic Orchestra ist, stets von sich.
Mit mahnenden Worten und ehrlichem Engagement hat Masur sich bis zuletzt ganz in den Dienst der Musik gestellt, für musische Bildung und gegen Kulturkürzungen gestritten, in Dresden um eine Spielstätte für die Philharmonie gerungen, weltweit als Friedensbotschafter gewirkt und sich leidenschaftlich in Meisterklassen für den Nachwuchs stark gemacht. Sein künstlerisches Kalendarium umfasste monatlich noch bis zu ein halbes Dutzend Termine.
Beethovens 9. Sinfonie, mit der Masur über viele Jahre hinweg die Hörer beglückte, war nicht mehr dabei. Jetzt müssen wir zum Plattenschrank greifen, um dieses Menschheits-Opus noch einmal mit dem großen Meister zu hören. Wie wichtig ihm dieser Komponist aber immer gewesen ist, hatte er so betont: „Ich bin heute noch der Überzeugung, dass es keinen Komponisten gibt, dessen Sicht auf das Leben, auf den Tod, auf den Sinn des Lebens klarer ist als bei Beethoven. Auch nicht Bach. Das ist für uns zwar der allumfassende Musiker, dessen Musik für alle Ebenen des Lebens etwas hat, bei dem man das Gefühl bekommt, er kann alles ausdrücken. Was Bach aber nicht ausdrücken konnte, war menschliche Verzweiflung in dem Sinne, wie wir es heute empfinden.“