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Auf dass der Gabentisch wanke

Was, Sie haben immer noch kein Geschenk für Tante Mascha, die pünktlich zu den Weihnachtstagen ihren alljährlichen Besuch angekündigt hat? Für eine Amazon-Bestellung ist es jetzt schon zu spät; aber beim freundlichen Platten- respektive Buchhändler finden Sie garantiert eine der folgenden Preziosen – auf dass das Fest der Liebe dieses Jahr einen der denkbar festlichsten Ausgänge nehme. Hüten Sie sich dabei indes vor den CDs, von deren Erwerb die Autoren Alexander Keuk und Martin Morgenstern eher abraten. Es sei denn, Sie wollen, dass Tante Mascha nächstes Jahr woanders feiert? 

Und mit einer solchen Warnung fangen wir auch gleich an: Peteris Vasks Musik klingt wie aus der Zeit gefallen und weiß nicht recht, ob sie sich stilistisch Weinberg oder Pärt zuwenden soll. Der Komponist arbeitet mit einfachen, emotionalen Gesten, und die Zuhörer freuen sich: oh, das ist neue Musik! Aber das ist sie eben nicht: die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts blendet sie komplett aus. Nun könnte man das als Stärke von Vasks auslegen; der Komponist schert sich eben nicht darum; aber dafür hat die Musik zu wenig innere Spannung. Sol Gabetta spielt das für Sie geschriebene Cellokonzert ganz toll, sie kann ja Cello spielen – aber warum setzt sie sich nur für diese Musik ein? Ein Gegenbeispiel geben wir dazu, das sich wohltuend absetzt und den Zuhörer vom ersten Ton an zu fesseln vermag: Gija Kancheli, ECM, Chiaroscuro. Mal reinhören, Sol?

Fabio Luisi und Zürich: eine schlagende Verbindung! Mit großem Erfolg hat der Ex-Dresdner Luisi mit den Zürchern bereits die Rachmaninov-Konzerte mit Lise de la Salle eingespielt. Das Eigenlabel des Orchesters kann sich durchaus hören lassen. Mit der neuen Einspielung ist eine Lanze für Wagners Musik gebrochen: es ist eben nicht die hunderttausendste Aufnahme irgendwelcher Ohrwürmer, sondern ist mit einer Farbwucht betrieben, die das orchestrale Komponieren Wagners kristallklar vor Ohren stellt. Ein striktes Metrum, die Pferde gesattelt, und ab gehts. Der Walkürenritt ist forsch, auffahrend, kein bisschen behäbig. Da braucht es keinen Schwurbeltext, kein Hojotoho. Chapeau, Maestro!

O heilige Nacht! Zugegeben: beide Autoren sind befangen, was diese CD angeht. Der eine hat sie mit eingesungen, der andere arbeitet mit dem Dirigenten an einem anderen Projekt zusammen, ihm ist außerdem der sechste Liedtitel gewidmet. Deswegen müssen Sie selbst herausfinden, wie großartig sie ist. Sie kann den Spaß am Chorsingen wecken, und, ja, sie betört manchmal mit musikalischer Schlichtheit. Aber gerade Schlichtheit könnten wir heute viel mehr brauchen. Vom deutschen Volkslied „Es flog ein Täublein weiße“ bis zum choralen „Jesu, großer Wunderstern“, vom heiteren „Quem pastores laudavere“ bis zum andächtigen „Puer natus in Bethlehem“, man wird hineingezogen in diesen stillen Kosmos. Es gibt besondere, engelsgleiche Momente auf dieser CD. Zum Nebenbeihören beim Geschenkeauspacken ist sie nicht gedacht; sie gehört ins Geschenk!

Der Pianist Alexander Krichel macht nicht den Lang Lang: er spielt klug, mit Übersicht, als wäre das alles gar nicht so schwer. Live ist die Aufnahme, mitgeschnitten imDresdner Schauspielhaus. Der Orchesterklang der Dresdner Philharmonie: nicht die typische Rach-matik, sondern eher mit Geist und Übersicht. Viele schöne Fotos enthält das Beiheft, leider jedoch keine Biografie des Protagonisten. Auch das Orchester muss der Hörer kennen. Na gut, in Dresden dürfen wir das voraussetzen; aber bei dem weltweiten Erfolg, der der CD zu gönnen wäre, wäre ein erklärendes Wort schon angebracht gewesen. Die Musikalischen Momente: kontrolliertes Risiko, aber trotzdem mit Sinn für die Größe. Das hat Format! Und ist ein schöner Auftakt für die Zusammenarbeit der Dresdner Philharmonie mit SONY Classical.

Nachtlieder, Schlaflieder, Albtraumlieder sind auf dieser feinen, sehr privaten CD mit dem Titel „Ich hab die Nacht geträumet“ versammelt. Letztes Mal war ja Weihnachten das Thema, diesmal also Nächtliches. Beide Musikerinnen, Juliane Gilbert und Almuth Schulz, haben ihre Lieder gesammelt, begeben sich auf Tagtraumreise. Man möchte die ganze Zeit mitsingen (es sind ja meist „Songs“), die Instrumente heben das Gesangliche hervor. Manchmal wirds auch traurig. Das nächste Lied tröstet dann wieder. Herrlich! Wenn sich nur mehr Musiker an so schöne, kleine Projekte wagen würden… Na, Elke Voigt? Nachricht angekommen?

Ja, ist sie! Vom Cover darf man sich indes nicht abschrecken lassen: diese feine Eigenbau-CD des Evangelisch-Lutherischen Kirchspiels Dresden-Neustadt versammelt Orgelwerke jeglicher Couleur von Nicolaus Bruhns bis Bert Matter, von Frühbarock bis Gegenwart. Die Jehmlich-Orgel der Martin-Luther-Kirche lässt aufhorchen. Eigentlich aber können Orgel-CDs immer nur Lust machen auf ein Live-Konzert in der Kirche. Trotzdem, dem guten Zweck dient der Erwerb dieser Silberscheibe, und hier kann er vorgenommen werden. Hat eigentlich einer der Dresdner Kantoren den Mut, einmal eine Orgelreise auf sämtlichen Instrumenten der Landeshauptstadt… gut, gut, wir können warten. Bis nächstes Weihnachten vielleicht.

Noch ein winziges bisschen Eigenwerbung sei erlaubt: im Verlag der Kunstagentur Dresden, die auch diese Webseite betreut, hat unser Autor Mathias Bäumel sein sehr persönliches Büchlein mit Erinnerungen an einige herausragende Ostrock-Bands aus Jugoslawien, der Tschechoslowakei, Polen und Ungarn herausgebracht. Genau das Richtige für einen melancholischen Abend zwischen den Jahren, wenn man mal etwas Abstand von den Lieben im tannenduftenden Wohnzimmer braucht.

Tip: Ein Plattenspieler sollte in der Nähe sein, oder mindestens ein Internetzugang, auf dem man einige der im Buch erwähnten Langspielplatten nachhören kann… So schwelgt man dann bei einem Glas Egri Bikavér, der heute übrigens nicht mehr so oft mit Kadarka, sondern eher mit Kékfrankos als Grundwein erzeugt wird, über den Tönen der „ungarischen Stones“ oder von »Bijelo Dugme«, der zweiten Band von – ja – Goran Bregovic!

Und noch ein Buch aus der Feder eines unserer Autoren: „Notiert von Michael Ernst“ sind die Erinnerungen des Dirigenten Michail Jurowski. Michael Ernst hat den Dirigenten in den vergangenen Jahren mehrmals zu Gesprächen getroffen. Die beiden hatten sich bereits in Leipzig kennengelernt, trafen sich wiederholt in Berlin, Dresden und Gohrisch, nutzten eine längere Probenphase im schwedischen Norrköping für dieses Buch, sind sich zuletzt in Mailand zur Saisoneröffnung an der Scala begegnet. „Das Porträt einer Musikerdynastie“ haben beide gezeichnet, „ähnlich bedeutsam wie die Oistrachs, die Järvis oder die Sanderlings.“ Kurzweilig ist das zu lesen, es schnurpst sich weg wie Schostakowitschs „Jazz-Suite“; aber wie die Musik des bewunderten Jurowski-Freundes und Mentors ist es zwar rasant, doch an keiner Stelle oberflächlich, voller subtiler Anspielungen. Mit dem Protagonisten ärgert man sich am Ende, dass dieser verflixte Brief von Dmitri Schostakowitsch „irgendwie, irgendwo, irgendwann“ verlorenging. Michael Jurowski – schauen Sie bitte unbedingt in der Innentasche des alten schwarzen Smokings nach, den Sie damals im Garderobenschrank des Stanislawski-Nemirowitsch-Dantschenko-Theaters hängen hatten!

Ob das im Oktober viele Abonnenten mitbekamen, was da für eine großartige Pianistin im Schauspielhaus ihr Dresden-Debüt gab? Das Chopin-Konzert lernte Beatrice Rana für Dresden neu, schloss gerade einen Vertrag mit Warner ab und hat nun Prokofievs 2. Klavierkonzert und das Erste Klavierkonzert von Tschaikowski mit Pappano und dem Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia eingespielt. Die Kritiker saßen mit offenem Mund im Konzert. Oh, halt, wir sehen gerade: die CD ist erst ab Februar nächsten Jahres überhaupt offiziell erhältlich. Da werden Sie Tante Mascha wohl einen Gutschein schenken müssen. Hoffentlich denkt sie daran, ihn einzulösen.

Das Beste, sozusagen das Nochniedagewesendste (würde er sagen), haben wir uns bis zum Schluss aufgespart. Wir formulieren es mal so:  Andere haben die Droge Paganini immer nur streng unter Laborbedingungen getestet. In Mikrodosierung haben sie den Komponisten wirken lassen. Kontrolliert und doppelblind. Florian Mayer hingegen mixt sich das Zeug im Schuppen hinterm Haus. Eine Prise Sexappeal nimmt er, zwei Strünke Teufelskraut, Nachtigallenzungen, eine Fingerspitze Chili. Und hinter damit! Die Wirkung setzt sofort ein, unberechenbar, wie ein Orkan. Die Paganini-Capricen spielte Mayer unlängst im Release-Konzert im Societätstheater so sorglos und wie nebenbei: wir hätten uns nicht gewundert, wenn er sich gleichzeitig noch eine Tasse Tee eingegossen oder die Stiefel poliert hätte. Dass davon eine CD existiert, konnten und wollten wir nicht glauben; nun ist sie ja doch zu bestellen, am besten direkt beim kleinen Unicornio-Verlag. Dieses süße Gift ist eigentlich am besten live zu genießen. Wann, wo? Darauf gibt beizeiten die Webseite des Allroundkünstlers Antwort. Solange müssen wir uns eben doch mit der Aufnahme trösten, die immerhin auch die „Ballade von David Bongartz“ (köstlich!) bereithält.

Alexander Keuk und Martin Morgenstern wünschen ein frohes Fest.

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