Für mich begann das Tanzjahr in Paris. Dorthin war ich gewissermaßen den Tänzerinnen und Tänzern des Semperoper Ballett gefolgt, die dort vom 6. bis zum 10. Januar im Théâtre des Champs Elysées gastierten.
Die Dresdner gestalteten ein Programm aus Anlass eines Abschieds: der schwedische Choreograf Mats Ek, der im April letzten Jahres 70 Jahre alt geworden ist, will sich von der Bühne zurückziehen. Unter dem Motto »Von Black to Blue« hatte er aus diesem Anlass drei Stücke ausgewählt, eines davon, getanzt von den Dresdnern, mit dem schönen Titel »She was black«, doch dazu später mehr.
Ek kommt aus einer Künstlerfamilie. Seine Laufbahn als Tänzer begann er erst im Alter von 24 Jahren. Die Mutter Birgit Cullberg gründete das nach ihr benannte Ballett und etablierte den modernen Tanz in Schweden. Als Gruppentänzer lernte er in Düsseldorf im Ballett der Deutschen Oper am Rhein das klassische Repertoire kennen und darauf beim Nederlands Dans Theater andere Möglichkeiten und Techniken des Tanzes. Zunächst aber wollte er wie der Vater, ein Schauspielregisseur, auch zum Theater. Nach dem Studium er Theaterwissenschaften hatte er mit Ingmar Bergmann und Alf Sjöberg gearbeitet. So wollte er auch inszenieren: psychologisch wie Bergmann, bildkräftig wie Sjöberg.
Zum Glück für die Tanzwelt hat er als Choreograf diese Impulse verwirklichen können. Einen Namen machte er sich, wenn auch nicht unumstritten, mit seinen Sichten auf Klassiker des Balletts.
In seiner »Giselle« von 1982 verlegt er das romantische Geisterreich in die Härte einer psychiatrischen Klinik. Sein »Dornröschen«, 1996 in Hamburg, spielt nicht in einer Märchenwelt sondern in der knallharten Drogenszene: Menschen hängen an der Nadel, flüchten in den Schlaf des Vergessens. Aus »Romeo und Julia« wird in seinem letzten großen Handlungsballett »Julia & Romeo«. Ek zeigt, wie Menschen unverschuldet auf der Strecke bleiben, wie junge Menschen dem Untergang geweiht sind und Julia sich zu Tode tanzt.
Parallel zu seinen Handlungsballetten setzte er sich immer wieder mit den Herausforderungen des getanzten Kammerspiels auseinander und schuf zutiefst berührende Werke, in denen der Mensch im Mittelpunkt steht, oftmals einsam, auch nackt und bloß. Eks Menschen sind rätselhaft und verstörend, nicht ohne auch tragikomisch zu sein. Ich denke dabei zum Beispiel an Georg Büchners Dramenfragment »Woyzek«, in dem es heißt, „Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht“. Ein Choreograf wie Mats Ek wäre der Welt noch das Tanzdrama nach Büchner schuldig!
Für den Abschiedsabend in Paris hatte er jedenfalls drei Stücke gewählt, in denen seine tanzenden Menschen nicht selten an die Ränder existenzieller Abgründe geraten. Der Abend begann mit „She was black“ zu Musik von Henryk M. Gorecki und traditionellen mongolische Gesängen. Mats Ek hatte mal sinngemäß zu diesem Stück gesagt, er wolle wissen, wie Gott aussieht, und er habe es gesehen, „she was black“! Dieses schwarze Wesen, „Die Gott“ ist zunächst fast unsichtbar auf der Bühne, und so kann es passieren, dass ein Tänzer darüber stolpert bei den so absurden wie komischen Versuchen in Pas de deux’s, solistisch, Frauen oder Männer, in wilden Gruppen mit einem rätselhaft clownesken Mann in Spitzenschuhen, zueinander zu kommen. An einem Tisch der für niemanden zum Ruheplatz wird, an und auf einer Treppe, die ins dunkle Nichts führt. Mir fiel Platos Gleichnis von den Kugelmenschen ein, die zertrennt wurden und nun auf ihrer Lebensreise versuchen, ihre andere Hälfte zu finden. „She was black“ ist für mich ein Stück, bei dem es immer wieder neue Varianten zu entdecken gibt, und in dem die Hauptthemen des psychologisch denkenden, mit so sinnlicher wie verstörender Bildhaftigkeit arbeitenden Choreografen Mats Ek sehr präsent sind. Ek schätzt die Dresdner Einstudierung, war im Dezember noch mal hier und hat mit den Tänzern gearbeitet. In Paris wurden die Dresdner bejubelt, das hat mich sehr gefreut. Die elf Tänzerinnen und Tänzer konnten vor allem mit ihrer grandiosen Technik und zudem mit ihrer jeweils so faszinierenden, individuellen Ausstrahlung überzeugen.
Im zweiten Teil des Abends zwei intimere Stücke, die ich nicht kannte, die sich aber in spannenden Korrespondenzen zum ersten bestens fügen. »Solo for 2«, an sich ein Widerspruch, aber es ist ein Grundthema von Mats Ek, die verflixte Einsamkeit zu zweit, zur meditativen Musik von Arvo Pärt, mit dem charismatische Tänzer Oscar Salmonsson und der großartige Dorothée Delabi, in der für Sylvie Guillem und Niklas Ek, dem Bruder des Choreografen, kreierten Choreografie. Eks Bewegungen, das Alleinsein, die Versuche zueinander zu kommen, das geht bis zur vergeblichen, momentanen Nacktheit, und auch da wackelt nur die Kulisse, das ist wieder jene Treppe, die ins Nichts führt, es kommt zum Kleider- und Identitätstausch und endet doch wo es begann; auch kein angedeuteter Walzer hilft.
Dann wird die Bühne abgeräumt, und »Hâche« (Axt) vollzieht sich vor den nackten Brandmauern. Ein gnadenloses Ambiente. Jetzt die Varianten der Einsamkeit des Alters: das ist berührend mit dem Tänzer Yvan Auzely und Ana Laguna, vor allem auch zur Musik des Adagios in g-Moll von Tomaso Albinoni. „Axt“ ist wörtlich zu verstehen. Als gelte es, Vorrat zu schaffen für einen langen Winter, hackt der Tänzer Holzscheite, dieweil die Tänzerin uns noch einmal in den Bann der Bewegungsvarianten von Mats Ek zieht, jenes Hüpfen mit den angewinkelten Armen wie gebrochene Flügel, die flatternd hoch erhobenen Hände. Das sind jetzt die Essenzen, das ist so eine wunderbare Konzentration der Zurücknahme, das sind Erinnerungen ohne Wehmut und starke Bilder: kann man einen Holzscheit, ja gar eine Axt, zärtlich im Arm halten wie ein Kind? Man kann, das zeigt die 60jährige Ana Laguna, Eks Frau und Muse. Der 54jährige Yvan Auzely nimmt für Momente die bewegenden Korrespondenzen der Zärtlichkeit des Alters auf. Am Ende lässt er sich mit Holzscheiten beladen. Beide gehen ab. Doch noch ein Anflug versöhnter Hoffnung? Das Holz reicht, das Feuer muss nicht ausgehen, aber die Axt hat erst mal ausgedient.
Und da hat man auch noch einmal den leisen, subtilen Humor des Choreografen, der seine Figuren, selbst wenn sie nackt sind, wie in »Solo for 2« oder in anderen Arbeiten, nicht aus- oder gar bloßstellt. Es ist eher so, dass er sich zu ihnen stellt, im entscheidenen Moment auch vor sie.
Was wird bleiben? Mats Ek selbst sagt ganz bescheiden: seine Werke werden zu sehen sein, so lange die Verträge laufen. Nach diesem Abend kann man nur hoffen, dass sie noch lange laufen!
Die Dresdner tanzen „She was black“ wieder am 7. und 10. Juli in der Semperoper. Schon am 7. und 8. Mai gastiert das Cullberg Ballett in Hellerau.