Von dem französischen Komponisten Jules Massenet hört man hierzulande wenige Werke. An den Opernhäusern kann man gelegentlich »Manon« oder eben »Werther« nach Goethes Briefroman erleben. Stoffe des deutschen Klassikers fanden seit Berlioz’ mit »Fausts Verdammnis« in Frankreich, in dem Goethe-Texte übersetzt vorlagen, eine starke Aufnahme. Aber sie waren weniger national-autoritär empfunden als in Deutschland. Der tiefe Ernst des »Faust« wird, wie in Gounods Werk, das in Deutschland nur unter dem Titel »Margarethe« gespielt werden durfte, weniger assimiliert als in einem freien Umgang mit den Originalen; so auch in Massenets »Werther«.
Die Chemnitzer Aufführung fällt durch ihre hervorragende musikalische Leitung von Felix Bender auf. Ihm gelang die klar durchgestaltete Musik in der Tradition Bizet/Gounod mit einer Vielfalt instrumentatorischer Eigenheiten besten zum Klingen zu bringen. Die Robert-Schumann-Philharmonie war ihm dazu ein bemerkenswert einfühlsames Instrument, das ihm nicht nur im Tutti, sondern vor allem in den vielen Soli (!) zur Verfügung stand. Und dieses Angebot nutzte er kongenial aus, trug die Sänger, gab der aus der szenischen Situation heraus geforderten Begleitung Profil und vermittelte so der Aufführung eine faszinierende Ausstrahlung. Allein das schon lohnte einen Besuch.
Der zyprisch-irische Regisseur Anthony Pilavachi legt die Handlung in das Haus des Amtmanns in Wetzlar, dessen Tochter Charlotte die Aufmerksamkeit des jungen Werther erregt. Da sie aber bereits verlobt ist, gestaltet sich die Beziehung kompliziert. Charlotte ist durch ihren Schwur vor der verstorbenen Mutter, diesen Verlobten zu ehelichen, pflichtgemäß gebunden; er von Leidenschaft getrieben. Der Konflikt ist unauflösbar: Werther bleibt am Ende nur noch der Selbstmord. In den Armen der Geliebten stirbt er operngemäß.
Die Musik, die durchkomponiert ist und wenig ariose Ruhepunkte zulässt, trägt das Geschehen unmittelbar. Die Sänger vermögen mit vorzüglichen Stimmen, etwa dem flexiblen Tenor von Timothy Richards als Werther und dem ausdruckstarken Mezzo von Cordelia Katharina Weil als Charlotte, die Handlung nachvollziehbar zu tragen. Dazu kommt als Verlobter Andreas Beinhauer und als Schwester der Charlotte Sophie die Koreanerin Guibee Yang mit schönem Sopran. Das Spiel ist allenthalben lebendig und erhält im Mitgehen des Kinderchores besondere Akzente. Allerdings erscheinen die buffonesken Elemente, die die Gestaltung auflockern sollen, unnötig übertrieben.
Insgesamt entstand eine tief bewegende Aufführung über ein Thema, das zeitübergreifend verfolgbar ist. Insofern stört wenig, dass der Werther kein Sturm-und-Drang-Jüngling des Goetheschen Urbildes ist, optisch mehr ein Witwer, der eine Partnerin gewinnen will. Mit einer entsprechend gestalteten Maske hätte man da einiges regeln können.
Dennoch: lang anhaltender Beifall feierte eine Premiere, die zu fesseln verstand und einem „Drama lyrique“ von 1892, einer Form, die auch Debussy in »Pelleas und Melisande« anwandte, voll entsprach.
Friedbert Streller