„Live is Life“ das ist der Hit von Opus, aus dem Jahre 1984. Nicht tot zu kriegen, dazu etliche Coverversionen, noch immer ein Partyknaller. Das kam mir so in den Sinn bei meiner letzten Reise in Sachen Ballett und Tanz, die mich mal wieder nach Nordhausen führte.
Denn hier wird live musiziert. Es geht in dem zweiteiligen Abend um die antike Tragödie »Ödipus« von Sophokles. Die mit Ende der Saison nach Schwerin wechselnde Ballettchefin Jutta Ebnother hatte für ihre unwahrscheinlich gut aufgestellte Kompanie den international renommierten Choreografen Pascal Touzeau, der auch mit dem Semperoper Ballett gearbeitet hat, eingeladen.
Touzeau bringt in eindrucksvollem Tanztheater die Geschichte des Ödipus von der Geburt bis zum Tod auf die Bühne. Er zeigt den vergeblichen Versuch, dem Spruch des Orakels, dass dieser Ödipus seinen Vater ermorden und seine Mutter heiraten werde, zu entgehen, indem die Eltern den Knaben aussetzen. Es kommt anders, so wie vorausgesagt. Ödipus ermordet den Vater, heiratet die Mutter, er kennt sie ja nicht. Und um die Menschen von den Plagen der Sphinx zu erlösen will er den Mord aufklären. Eine super Kriminalstory. Der Schuldige ermittelt gegen sich selbst. Wenn er die Schuld erkennt wird er sich blenden – denn als Sehender war er blind.
Für Touzeau, der auch für den Bühnenraum und die Kostüme verantwortlich zeichnet, geht es um ein Prinzip Ödipus, denn die Mutter hält anstelle eines Säuglings eine Plastik aus Buchstaben im Arm: »OEDIPUS«. Im Verlauf der so spannenden wie assoziationsreichen Choreografie wird der Fall Ödipus ‚aufgerollt‘. Da werden Bahnen des Bühnenbodens Tänzern regelrecht unter den Füßen weggezogen, hochgezogen, und sind dann, je näher der Fall seiner Aufklärung kommt, mit Blut beschmiert. Am Ende, wenn der sehend gewordene, blinde Ödipus in dieser Version, die Motive beider Dramen des Sophokles verbindet, zum Schatten wird und stirbt, bleibt dennoch dieser Name sichtbar, dieses Prinzip der schuldlos Schuldigen bleibt in der Welt.
Diese spannende Choreografie ist nicht ohne Assoziationsmöglichkeiten angesichts heutiger, nicht enden wollender Prozesse oder Untersuchungen, bei denen natürlich die modernen „schuldlos“ Schuldigen wohl auch am liebsten alle Verantwortung auf die Unabwendbarkeit der Sprüche eines Orakels abwenden würden. Der Tanz, das Ballett ist die Kunst mit Assoziationen zu arbeiten. Sie zuzulassen, steht dem Zuschauer frei.
Und inwieweit sich die Zuschauenden einfach nur zurücklehnen, sich daran freuen, wie gut getanzt wird, wie toll die Kostüme und die Ausstattung sind – was hier alles höchste Anerkennung verdient – oder ob sie noch weiter geführt werden, zu den eigenen Bildern im Kopf, das hängt gerade im Tanz sehr wesentlich von der Musik ab. Und diese entfaltet ihre Wirkung für mich immer noch am intensivsten, wenn sie live gespielt wird.
Pascal Touzeau wählte für seine Ödipus-Interpretation die Streichquartette eins bis drei in umgekehrter Reihenfolge von Henryk Mikolaj Gorecki und »Lacrymosa« für Sopran und Streichorchester von Dmitri Yanov-Yanowsky. Sicher, da gibt es tolle Einspielungen, etwa die mit dem Royal String Quartet, oder natürlich mit den Musikern vom Kronos Quartett. Nein, sagte der Choreograf: Diese Kammermusik soll live gespielt werden! Die Mitglieder des Loh-Orchesters Sondershausen stellten sich ebenso wie die Tänzer den ungewöhnlichen Anforderungen eines Choreografen auch den für sie nicht so ganz gewöhnlichen Anforderungen dieser speziellen Kammermusik.
Ich wette, keine technisch noch so perfekte Einspielung hätte genau jene Wirkung erzielen können wie dieses Spiel der vier Musiker. Denn sie können mit dem Tanz atmen. Sie bringen diesen lebendigen Klang als vermittelndes Element zwischen den Zuschauern und den Tänzern ein, sie machen in diesem Falle die Tragödie menschlich.
Im ersten Teil, einem intelligenten Vorspiel, durchaus auch heiter und ironisch zu verstehen, lässt die Choreografin Jutta Ebnother das Orakel tanzen, und sie lässt Menschen um dieses Orakel herum tanzen. Alle gefangen im Tanz, hier mal nicht um das goldene Kalb, sondern um das schwarze Orakel. Und der Tanz endet unter einem regelrechten Goldregen. Es regnet Glückskekse. Und dass sich wie in jeder guten Komödie unter dem Spaß ein ernster Grund befindet, belegt die Musik in ihrem Wechsel aus heiterer Gelassenheit und großer Ernsthaftigkeit. Jutta Ebnother wählte für ihr Vorspiel in der Form eines Satyrspiels das Klavierquintett g-Moll op. 57 von Dmitri Schostakowitsch. Wer auf sich hält, bevorzugt die Aufnahme mit dem Beaux Arts Trio. Aber auch hier stellen sich wieder die Musiker des Loh-Orchesters einer für sie sicher nicht alltäglichen Aufgabe, und ihre berührende Art zu musizieren, lässt die Zuschauer schmunzeln – und dennoch gespannt darauf sein, wie es dann wohl, nach diesem heiteren Ausflug in die alte, neue Welt der Orakel, mit der Tragödie weiter gehen wird.
Am Ende großer Erfolg. Die Leute stehen auf, sie jubeln, zuvor im Saal gespannte Aufmerksamkeit. Ich denke, der Erfolg dieses Ballettabends verdankt sich nicht zuletzt der Musik – und dies besonders, weil sie live gespielt und gesungen wurde. Eben: Live is Life.