Also: Dresden hat es mal wieder nicht geschafft, einen Platz auf der Tanzplattform Deutschland zu ertanzen. Die in Hellerau gesichteten Beiträge konnten den Ansprüchen der Jury nicht genügen, die aus über 200 gesehenen Arbeiten zwölf ausgewählt hat für das aller zwei Jahre stattfindende Festival das als wichtigstes Tanzereignis des Landes bezeichnet wird. 1994 fand das erste »Theatertreffen des Tanzes« statt, zwei Jahre darauf, erstmals ausgerichtet vom Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt, wohin es nun nach 20 Jahren zurückgekehrt ist.
Vielleicht hätten die Dresdner die Hüllen fallen lassen müssen wie die Protagonistinnen bei ihren vaginalen Erkundungsspäßen in »Until Our Hearts Stop« von Meg Stuart mit der Kompanie Damaged Goods in einer Produktion der Münchner Kammerspiele? Vielleicht hätten Dresdner Tänzer, so sie sich denn dem Auswahlverfahren gestellt hätten, auch die Hosen runter lassen müssen, um ganz ungeschützt sich in den Irrungen und Wirrungen auf der Suche nach der Sprache, die die Haut spricht, zu lauschen? Vielleicht hätte sie aus Verzweiflung über die Normalität alltäglicher Gewalt sich einer Abfolge choreografierter Gewaltexzesse aussetzen müssen, wie Verena Billinger & Sebastian Schulz aus Düsseldorf und Frankfurt in ihrer am Ende etwas zu gut gemeinten und daher nur noch nervigen Performance »Violent Event«? Vielleicht sollten sie sich mit den Traditionen des Volkstanzes beschäftigen, wie Isabelle Schad mit ihren 22 Tänzerinnen und Tänzern, die sich in »Collective Jumps« über eine Stunde lang reigenselig in Kreisen bewegen, sich verknoten und am Ende in esoterischer Langeweile verlaufen? Da müssten doch die Hellerauer Traditionen locken, barfuß, auf der Wiese, im Mondschein…
Oder hätten sie sich ganz dem Tanz total verweigern sollen in bedingungslos performativer Konsequenz wie das Berliner Duo Ana Vujanović & Saša Asentić in der über zweistündigen Performance »On Trial Together (Episode Offenbach)« als Gesellschaftsspiel und Happening anhand der Frage, was Theater und was Choreografie sei, die sich in den Umkehrschluss verwandelte, was dieses Theater solle und ob man nicht in eine autoritär choreografierte Falle geraten sei, zumal man den abgelegenen Ort in Offenbach erst wieder nach mindestens zwei Stunden mit einem Shuttlebus verlassen konnte.
Nun gut, es zählt ja nicht nur der Platz auf der Plattform, sondern auch der davor, den ich gerne und mit wachsendem Interesse nun an vier Tagen neun mal eingenommen habe. Nicht dass ich drei mal geschwänzt hätte, die wunderbare Antje Pfundtner in Gesellschaft mit »nimmer« hatte ich schon in Hellerau gesehen, und ebenso die Rekonstruktion von Oscar Schlemmers »Das Triadische Ballett« mit dem Bayerischen Staatsballett II, das ist die Juniorkompanie. Und gestern musste ich entscheiden zwischen Meg Stuart oder Antonia Baehr & Valérie Castan. Ich hätte mich für deren »Misses and Mysteries – A Choreographic Radio Play« entscheiden sollen, wahrscheinlich nicht nur, weil diese Produktion nur eine Stunde ging und bei Meg Stuart nach zwei Stunden immer noch kein Ende in Sicht war.
Dass in der Kürze die Kunst liegt, haben vor allem die jüngeren Tänzerinnen, Tänzer, Choreografinnen und Choreografen bewiesen. Vor allem dann, wenn sie auf performative Verbalattacken oder endlose Videoschleifen verzichten. Tendenz: Tanz pur! So lassen sich für mich die Eindrücke dreier für mich außergewöhnlicher Arbeiten zusammenfassen. Wobei ich es schon erstaunlich finde, dass die zukunftsweisenden Impulse des Festivals von den jüngeren Künstlerinnen und Künstlern kommen. Noch erstaunlicher, wie sich anhand dieser Beiträge zeigte, deren Abkehr von performativen Beiläufigkeiten hin zu choreografischer und tänzerischer Konzentration. Da ist die Arbeit von Adam Linder aus Berlin, die sich auf Léonide Massines Choreografie »Parade« zur Musik von Erik Satie in der Ausstattung Pablo Picassos von 1917 für die Ballet Russes bezieht. Das Stück erregte Aufsehen, weil nach den Anweisungen des Autors Jean Cocteau Gebärden des alltäglichen Lebens durch Übertreibungen und Ironisierungen in mitunter absurde Szenen des Tanzes gesteigert wurden. Linder kopiert nicht. Bestenfalls zitiert er, noch besser, wenn er auch ironisiert in seiner Parade alltäglicher Eitelkeiten, die er von seinem Berufsstand als Tänzer bestens kennt. Augenzwinkernde Ironie, so exakt wie elegant getanzt, dazu eine intelligente Soundcollage in hintergründigen Korrespondenzen, deren Parade geradewegs in die Gegenwart führt.
Ganz gegenwärtig, ganz ohne Musik und Video, hergeleitet aus den sich wiederholenden Endlosschleifen der Bewegungsformate aus dem Fitnesswahn, präsentiert Paula Rosolen aus Frankfurt ihr Ballett in drei Akten, »Aerobics!«. Sie findet Spuren des klassischen Balletts in den Bewegungen der Alltagskultur, sie spürt den Parallelen anhand der Faszination sich hier wiederholender Bewegungen nach und bringt sie zueinander in Raum- und Bildkompositionen ihrer Protagonisten die nicht in jedem Fall überkommenen Vorstellungen von Tänzerinnen und Tänzern entsprechen müssen, zudem kennt Paula Rosolen den Unterschied zwischen Albernheiten und Humor. Eine Arbeit von existenzieller Eindringlichkeit, suggestiv und sensibel, präsentiert der in Wien und Berlin lebende Tänzer und Choreograf Ian Kaler gemeinsam mit seinem Wiener Kollegen Philipp Gehmacher mit der Soundkünstlerin Aquarian Jugs (Jam Rostron). Kalers Choreografie heißt »o.T. (gateways to movements)« und ist ein 50 Minuten währender Pas de deux in der Spannung aus Distanz und Nähe, Einsamkeit und deren Überwindung trotz unvermeidlicher Trennung. Erstaunlich, mit wie überzeugendem Raumgefühl Kaler eine Abfolge von Bildern gestaltet, wie er es vermag hinter der scheinbaren Äußerlichkeit von Versatzstücken der Clubkultur Strukturen der Sehnsucht zu erkennen, die er dann im Wechsel aus Expression und Zurücknahme in künstlerische Formen verwandelt. Kein Wort, kein Video – die Dynamik aus Körpersprache und Klang ist in der Korrespondenz zum Raum beredt genug.
Und dann habe ich auch Erfahrungen sammeln können in der choreografischen Kunst im immer völlig überfüllten Festivalclub mit dem schönen Namen „Freitagsküche“ am späten Abend an die Bar zu kommen und auch wieder zurück, den mühsam erstandenen Wein schnell hinterzuschütten, um ihn nicht zu verschütten… In Adam Linders Choreographie hätte ich jedenfalls gut hineingepasst mit meinen Bewegungen!