Wer ausländische Staatsoberhäupter beleidigt oder beleidigte ausländische Staatsoberhäupter bloßstellt oder sich über bloßgestellte beleidigte ausländische Staatsoberhäupter lustig macht, wird mit Haftstrafen nicht unter drei Abenden Anstalt bedroht. Strafverschärfend kann das Erste oder Zweite Deutsche Fernsehen lebenslang verhängt werden. Da sich derzeit niemand von den ausländischen Staatsoberhäuptern so schön beleidigt und beleidigend bloßstellt wie Recep Tayyip Erdogan – und die Weltöffentlichkeit obendrein dazu einlädt, sich darüber hübsch lustig zu machen! – muss dringend Anklage erhoben werden. Gegen ihn! Hauptvorwurf: Niemand beleidigt Erdogan so schön wie er sich selbst. Ach, hätte der Boss vom Bosporus seine Kläger doch nicht ZDF glotzen lassen. Was wäre der Weltöffentlichkeit erspart geblieben. Der Ärgermann Erdogan – dem ganz Bürokraten-Europa plötzlich zu Füßen liegt, weil man seine Hau-Drauf-Demokratie ja als sicheres Drittland in Flüchtlingsfragen braucht –, er hätte in Dresden Spannendes zum Thema erleben können.
Beispielsweise beim Anhören der »Mesopotamia Symphonie« im Albertinum. Die Dresdner Philharmonie war mutig genug, die Deutsche Erstaufführung dieses abendfüllenden Werkes von Fazil Say zu bewerkstelligen. Und das Publikum ist ebenso begeistert wie erschüttert gewesen ob dieser Darstellung jahrtausendealter Gewaltorgien, die im Namen von Göttern aus dem Zweistromland über die Menschen herfielen. Und -fallen. Und fallen. Und fallen. Wohlgemerkt: Nicht nur im Namen von orientalischen Göttern, auch die im Abendland erfundenen Gottheiten haben dort wohlfeil für Mord und Zerstörung herhalten müssen. Bis heute.
Wer Fazil Say in Dresden verpasst hat, dem sei die CD mit der 2. und der 3. Sinfonie des türkischen Komponisten empfohlen. Die beiden Werke heißen »Mesopotamia« und »Universe« (die 1. Sinfonie trägt den Titel »Istanbul«). Schon die Namen versinnbildlichen, wie hier ein Künstler den Blick weitet und seine Hörerschaft dazu einlädt, es ihm gleichzutun. Freilich wird er dafür in seiner türkischen Heimat eher verfolgt denn geehrt, wie es ihm eigentlich gebührte. Wer die Courage der Dresdner Philharmonie für Neue Musik honorieren will, dem sei obendrein die Uraufführung des Violinkonzertes von Torsten Rasch anempfohlen. Torsten Rasch? Richtig, das ist der mit den Pet Shop Boys und »Potemkin«, das ist aber auch der mit »Mein Herz brennt«, seiner eigenwilligen Vertonung von Rammstein-Texten.
Torsten Rasch ist aber auch mal Kruzianer gewesen, hat als gebürtiger Dresdner die Musikwelt bereist und erkundet, war 15 Jahre in Japan unterwegs und ist derzeit vor allem in Großbritannien sehr angesagt. Von dort kam seine Oper »The Duchess of Malfi« erfolgreich nach Chemnitz. Jetzt aber ist seine Geburtsstadt Dresden dran und kommt in den Genuss der Uraufführung von »Tropoi«. Dieses Wort steht für Melodie und erinnert nicht zufällig an einen Roman von Helmut Krausser, in dem nichts weniger als die Ewige Melodie der Menschheit gesucht wird. Am Sonntag wird Wolfgang Hentrich, Erster Konzertmeister der Philharmonie, den Solopart in der Kreuzkirche erklingen lassen; unterstützt von seinen Kolleginnen und Kollegen unter der musikalischen Leitung von Leo McFall. Der Geiger ist fasziniert von dieser Musik, von ihrer Melodie-Sehnsucht sowie von dem damit verbundenen humanistischen Anspruch.
Wäre das nicht mal eine Botschaft für den Bosporus? Allemal besser als miese Reime und schlechte Satire. Doch bevor das Uraufführungsorchester die »Tropoi« vielleicht mal mit auf ein Gastspiel nehmen, erfolgt die amerikanische Erstaufführung des Violinkonzerts von Torsten Rasch im September in South Carolina. Ach ja, die USA haben ja auch gewisse Persönlichkeiten, die sich selbst besser beleidigen als jeder andere das könnte. Zum Glück – noch?! – nicht als Staatsoberhaupt.
Bis zum nächsten Freitag –
Michael Ernst