Das Werk (Musik und Libretto); das der Komponist 1934/34 in der inneren Emigration in Lenzkirch im Schwarzwald verfasste, wurde von den Nazis als entartete Kunst attackiert. Die Uraufführung fand 1938 in Zürich statt. Die Dresdner Oper suchte nach dem 2. Welt-krieg das Werk für sich zu gewinnen. Der Komponist, der 1946 in der Emigration die Staatsbürgerschaft der USA erringen konnte, ließ sich später nicht in Westdeutschland, sondern in der Schweiz nieder. Er fürchtete Begegnungen mit ehemaligen „Feinden“, noch mehr eine einseitige Politisierung seiner Oper in Ostdeutschland. So nahm er 1958 seine Dresdner Zusage zurück, obwohl er hier im Gegensatz zur Schönberg/Webern-Mode der BRD im Osten eine wesentliche Grundlage für die Komponisten der DDR lieferte. Sei es, wie es war: Die Aufführung konnte in Dresden erst jetzt 60 Jahre später stattfinden, obwohl Chemnitz (das damalige Karl-Marx-Stadt) im Ende Mai 1968 »Mathis der Maler« in DDR-Erstaufführung (Dirigent: Gerhard Rolf Bauer, Inszenierung: Carl Riha) herausbrachte.
Die Dresdner Erstaufführung in der Inszenierung von Jochen Biganzoli nahm die Aufgabe, die die Kunst in der Gesellschaft zu lösen hat, als kritische Sichtung der Stellung des Künstlers, seiner Entscheidungen, seiner Enttäuschungen auf, die schließlich in einer Versteigerung des Isenheimer Altars mit Milliardengewinnen gipfelt. So wird der Kunstwert zum Kapitalwert, zum Ende von Kunst als gesellschaftlicher Erscheinung. Und wenn Christus am Kreuz der Merkantilität mit Einkaufstaschen behängt in die Tiefe des Bühnenbodens versinkt, dann wurde das von Hindemith geschilderte historische Geschehen von Bauernkrieg und Glaubenskampf der Lutheraner um Reformation gegen geldgierigen Katholizismus zur Deklaration von Anschauungen statt zu einem Bild des historischen Lebens.
Hindemiths Musik aber ist wahres Leben, dafür stehen auch das vitale, dem Geschehen unmittelbar nachgehende Dirigat der Hamburger Opernchefin Simone Young und die Gestaltung des hervorragend agierenden Chores der Staatsoper (Jörn Hinnerk Andresen) und den bestens eingestellten Solisten. Sie vermochten dem Geschehen lebendige Interpretation zu geben. Die Texte, die über der Szene zu verfolgen sind, machen die Handlung unmittelbar nachvollziehbar, so dass die originale Bauernkriegshandlung, in die der Maler aus Verantwortung hineingezwungen ist, begreifbar wird, und manches Wunderliche sich einordnen lässt, wie etwa der Disput der Päpstlichen und der Lutheraner als sportlicher Wettstreit des Tauziehens.
Die humanistische Aussage, gleichsam die zweite Ebene, bleibt dank der genialen, der überzeugenden Musik eines Menschen, der ins Dritten Reich genauso hineingeworfen wurde wie Mathis in den Bauernkrieg, und durch die Sängergestaltung der durchweg hervorragenden Solisten akzentuiert. Allen voran zeigt sich das bei dem Titelhelden, der in Markus Marquardt einen ausdrucksstarken Mittler erfährt und die inneren Probleme und Entwicklungen des Künstlers in entscheidenden Situationen mit tragfähiger Stimme offenbart. Annemarie Kremer als Ursula, Tochter des Mainzer Bürger Riedinger, die mit zupackender Gestaltung und ausdrucksstarker Stimme überzeugt und so als liebende Begleiterin des alternden Mathis sich darstellt und doch selbst Spielball in den Auseinandersetzungen zwischen dem Mainzer Kardinal Albrecht und den nach Einfluss strebenden Lutheraner wurde. John Daszak, charakterisiert mit seinem strahlenden Tenor den menschlich gezeichneten Kardinal als echten Partner. Der Bauernführer Hans Schwalb fand in Herbert Lippert den treffenden Ausdruck, verbunden mit Emily Dorn als dessen Tochter Regina, die mit schöner volksliedhaft geführter Stimme berührte und in Mathis den väterlich liebenden Freund fand.
All das – stets einbezogen in die großen Chorszenen – war von beeindruckender Wirkung. Die hier gesuchte verallgemeinernde Form der Darstellung mag befremden, vor allem dort, wo das Bildhafte etwa von Mathis, als Matthias Grünewald, in den Vordergrund treten müsste und Hindemith als nicht unbedeutender Hobby-Maler dem konkret nachging. Aber das war nicht beabsichtigt. Man wollte das Künstlerschicksal von Heute erfassen, deshalb gab es entsprechende Bilder und Aussagen von Robert Longo, Roy Lichtenstein, Ernst Ludwig Richter bis zu Claude Monet. Nur das Bild des Isenheimer Altars, in dem Mathis der Maler seine Erlebnisse an historischem Altarbild festmachte, bleibt im Hintergrund.
Der Abend war dennoch von erregender Intensität. Ein großartiges Opernerlebnis wurde hier nachgereicht, das längst hätte sein müssen. Allerdings bleibt der historische Bezug auf die Ereignisse des 15. Jahrhunderts, denen im Lutherschen Thesenanschlag in Wittenberg 2017 nach 600 Jahren gedacht wird, sehr vage. Hier hätte die Dresdner Oper dieser Jahrhundertfeier ins Auge fassen können, ja einbetten müssen.
Friedbert Streller
Nächste Aufführungen: 4., 10., 15., 20. Mai 2016