Das ist Rekord: Ganze vier Wochen lang währt das Festival, das Dresdens Stadtpolitik vor wenigen Jahren mittels „Null-Zuschuss“ noch abschaffen wollte. Doch längst haben sogar Kommunalpolitiker die nationale und internationale Strahlkraft der Musikfestspiele kennen und schätzen gelernt, nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen. Wenn Beamte etwas begreifen, dann ist es das Stichwort der sogenannten Umwegrentabilität. Bleibt zu hoffen, dass es diesem Jahr trotz der pegidistischen Wegelagerer und der Wegelagerei durch die hiesige Beherbergungssteuer funktioniert, um den den Zeit-Planern nicht einen Strich durch die Rechnung zu machen.
Das Programm sowie viele der zu den Dresdner Musikfestspielen eingeladenen Gäste haben allerdings das Zeug, den lädierten Ruf Dresdens kräftig aufzupolieren. Jan Vogler und seinem Team ist es wieder einmal gelungen, das anspruchsvolle Wort „hochkarätig“ mit Inhalt zu füllen. Als da wären das Boston Symphony und das Israel Philharmonic Orchestra, das Concertgebouworchester Amsterdam, Pittsburgh und Singapore Symphony, WDR Sinfonieorchester Köln, natürlich auch das Dresdner Festspielorchester, die Dresdner Philharmonie und die Sächsische Staatskapelle sowie das Hochschulsinfonieorchester und die Neue Jüdische Kammerphilharmonie Dresden.
Hat da mal jemand mitgezählt? Wo soll beispielsweise noch Zeit für Kammerensembles und Solisten bleiben? Keine Sorge, das Stelldichein namhafter Klangkörper lässt genügend Raum etwa für das Blechbläserensemble der Berliner Philharmoniker, für das Curtis Institute of Music, das Cullberg Ballet Stockholm und auch für Andrej Hermlin und sein Swing Dance Orchestra. Damit ist die stilistische Vielfalt der Dresdner Zeit-Festspiele im 39. Jahrgang zumindest angedeutet.
Ausgewählte Namen von Gastkünstlern, die mal mehr, mal weniger temporeich in den immerhin 52 Konzertpunkten mitwirken sollen, stehen für dieses Thema: Pianisten wie Lise de la Salle, Pierre-Laurent Aimard, Igor Levit, Peter Serkin und Daniil Trifonov, Geiger wie Arabella Steinbacher, David Garrett, Leonidas Kavakos und Gil Shaham, Trompeter wie Till Brönner und Sergei Nakariakov (in einem gewiss atemraubenden Zusammentreffen), Gesangssolisten wie Tora Augestad, Hilla Baggio, Waltraut Meier und Georg Zeppenfeld, Dirigenten wie Herbert Blomstedt, Ivor Bolton, Semyon Bychkov, Marek Janowski und Omer Meir Wellber … – kurz und gut, die diesjährigen Musikfestspiele krönen sich in der Tat mit der musikalischen Elite unserer Zeit.
„Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding,“ so sang die Marschallin im „Rosenkavalier“ von Richard Strauss. In der Tat ist es sonderbar, was dramaturgisch unter diesem Motto zusammengefasst wird. Beginnend mit Michael Nyman und seiner Band, der am Donnerstag Abend ein Auftragswerk der Musikfestspiele im Hygiene-Museum uraufgeführt hat. Seine Minimal Music geht bekanntlich ganz exemplarisch mit dem Zeit-Begriff um – und erklang hier im Auftaktkonzert zur Langen Nacht der Zeit. Quasi als zerdehntes Pendant dazu steht nun Gustav Mahlers 9. Sinfonie im Programm, gefolgt von Beethovens flotter 7. und einem Hellerauer Ballettabend im Festspielhaus. Als ein noch exklusiverer Spielort darf wohl die Reithalle gelten, wo das Brandt Brauer Frick Ensemble elektronische Musik auf klassischen Instrumenten zelebriert. „Classic Beats“ ist eine ganz und gar neue Reihe, die junges Publikum in die Clubszene locken soll, um dort musikalische Grenzen zu überschreiten.
Ein Wiedersehen und -hören gibt es mit der experimentierfreudigen „Bohème 2020“, Neuland hingegen beschreitet das Jerusalem Quartet mit drei Streichquartetten von Dmitri Schostakowitsch im Konzertsaal der Musikhochschule. Schauspielerin Martina Gedeck und Pianist Sebastian Knauer stellen die allzu kurze Lebensgeschichte von George Gershwin dar, in einer Hommage an den vor 100 Jahren geborenen Violinvirtuosen Yehudi Menuhin präsentiert dessen einstiger Zögling Daniel Hope ein Extra-Programm. In ganz andere Genres und Epochen führt ein Swing-Konzert in der Semperoper, als Kontrast dazu singt der Kreuzchor im Schlosspark Pillnitz vom „Leben in der Zeit“.
Ein dreiteiliger Beethoven-Zyklus des griechische Geigers Leonidas Kavakos und des italienischen Pianisten Enrico Pace bringt die Violinsonaten von Ludwig van Beethoven näher, um wichtige Zeitbilder der Musikgeschichte aus ihrem Entwicklungsprozess darzustellen. Sehr unterschiedliche Rhythmik von jüdischer und arabischer Folklore interpretiert Omer Meir Wellber mit Musikern seines israelischen Orchesters, bevor sie gemeinsam Gustav Mahlers „Sinfonie der Tausend“ (Nr. 8) in der Kreuzkirche aufführen werden. Eher sächsisch regionale Tempi gehen Ludwig Güttler und dessen Virtuosi Saxoniae an, in die Zeit des Belcanto entführen Marie Bäumer und ein namhaftes Sängerensemble, mit dem Quartett auf das Ende der Zeit gemahnen Musiker des Curtis Institute Philadelphia an Olivier Messiaen, der dieses Ausnahmewerk während seiner Haftzeit im Kriegsgefangenenlager Görlitz komponiert und uraufgeführt hat.
Eine „Lange Nacht des Cellos“ gibt es auf Schloss Wackerbarth, im Ballhaus Watzke verbinden Mitglieder des Festspielorchesters Crossover mit heutiger Bierseligkeit. Grenzüberschreitung versprechen auch das Quintett Spark mit seinem Spagat aus Klassik und Rock sowie das Ukulele Orchestra of Great Britain. Nicht zuletzt bedienen das Kinderkonzert „Spielen mit Zeit“ sowie ein TU-Projekt „Das Geheimnis von Musik und Zeit“ das aktuelle Thema.