Der neue Lüstling der Semperoper leitet eine Castingagentur – und zieht die vorsprechenden Models reihenweise auf und über den Schreibtisch. Dieser Don Giovanni ist zielstrebig, skrupellos, aber er hat eben auch nur eins im Kopf: die Liste, die Liste. Tiefere Gefühle für seine Verflossenen, Leises Mitleid für eventuelle Kollateralschäden oder auch nur den geringsten Zweifel an seinem Lebenswandel kennt Don Giovanni nicht – und die Stimme von Lucas Meachem folglich auch kaum Zwischentöne. Immer geht es hier um Eroberungen, ohne Zögern, ohne Pardon.
Ist es der Inszenierung von Andreas Kriegenburg vorzuwerfen, dass sie die Charaktere der Oper kraftvoll, aber eben auch mit wenigen Zwischentönen zeichnet? Dass die Rezitativbegleitungen von Omar Meir Wellber im Graben und der runde, immer klug artikulierte Ton der Staatskapelle um Welten komplexer und hintersinniger daherkommen als die Story, die sich oben auf den Brettern abspielt? Guido Loconsolo, der in der berückend schönen Aufnahme mit Currentzis überzeugend den Masetto gibt, kann als Leporello nur immer seinem Meister hinterherhecheln und entwickelt wenig eigene Ausdruckskraft (lustig, dass der „Leporello“, der üblicherweise die vielen Eroberungen des Meisters auflistet, hier zum iPad wird, auf dem Leporello und Donna Elvira – Aga Mikolaj – wütend bis stolz umherwischeln; aber ganz neu ist diese Idee auch nicht mehr). Geschmeidig und ausdrucksstark gibt Peter Sonn den Don Ottavio, atemlos und beglückt lauschen wir auch der „Non mi dir“-Arie der Donna Anna (Maria Bengtsson; rasende Bravi!). Stimmlich wacker schlagen sich Evan Hughes und Christina Bock als Brautpaar. Überhaupt ist diese Zerlina vielleicht die komplexeste Figur dieses Abends: wie sie zwischen Verachtung für Don Giovanni und kontrollierter Verführungskunst pendelt, wie sie sich Mut antrinkt für den One-Night-Stand und sich gleichzeitig wünscht, ihr zukünftiger Ehemann möge doch endlich mal Eier zeigen!
Aber all dies geschieht eben doch im erwartbaren Rahmen einer Repertoire-Oper, die keinen Touristen verschrecken und doch allen etwas bringen soll. Zwei große Raumsituationen gibts im Universum des Harald Thor (der doch vor drei Jahren so kraft- und fantasievolle Bilder für den »Orlando« gefunden hat!): die Castingwelt mit Laminat, Sichtbeton und fünf Meter hohen Decken – und für die schlüpfrigeren Feierstunden eine Art Keller-Restaurant mit Kronleuchtern und Kerzenständern, die sich in pittoresken Pfützen spiegeln (und aus dem der Hauptheld schlussendlich von schwankenden Gestalten in den höllisch dampfenden Bühnenhintergrund gezogen wird, nachdem der rasch gefundene Ersatzmann Georg Zeppenfeld zum Essen erschienen ist. Zeppenfeld singt den Komtur natürlich fantastisch!). Über ein einziges kräftiges „Buh“ kann das Regieteam beim zweiten Schlussapplaus lächeln. Der Rest des Publikums ergeht sich in herzlichem bis tollem Klatschen, in das sich spitze Jubelschreie einiger Gesangskolleginnen außer Dienst mischen. Wenn man als Regisseur alles so schön richtig gemacht hat – hat man nicht irgendwie schon wieder was falsch gemacht?