Ja, es stimmt, die Kulturpolitiker der DDR taten sich mit den religiösen Inhalten des »Parsifal« schwer. Von einem Aufführungsverbot, über das die Medien nun wieder munkeln, kann jedoch keine Rede sein. Boris Gruhl nimmt uns aus aktuellem Anlass mit auf einen Spaziergang durch die große »Parsifal«-Ahnengalerie der Deutschen Demokratischen Republik.
Einzig in Bayreuth sollte dieses Bühnenweihfestspiel aufgeführt werden; so hatte es Richard Wagner verfügt. Kurz nach seinem Tod genehmigte seine Witwe Cosima immerhin eine Sonderaufführung in München für König Ludwig II. Die Amerikaner fragten erst gar nicht. Am Heiligen Abend des Jahres 1903 erklang Wagners Karfreitagszauber in der Erstaufführung der Metropolitan Opera in New York. Eine verärgerte Cosima bewirkte für den Dirigenten dieser Aufführung – Alfred Hertz, ganz kurzfristig für Alfred Mottl eingesprungen – Auftrittsverbot in Deutschland. Als 1913 der Urheberrechtsschutz auslief, wollte Wagners Witwe noch eine weitere Verlängerung für 20 Jahre erwirken, da machte der Reichstag nicht mit. Fortan konnte man den »Parsifal« aufführen, wo man wollte; natürlich am besten in Szene gesetzt durch ein Ausnahmetalent! Das meinte man in Bayreuth für eine Neuinszenierung 134 Jahre nach der Uraufführung, zu Eröffnung der diesjährigen Festspiele, mit dem deutschen Künstler Jonathan Meese gefunden zu haben. Nur scheint dieser dann doch keinen vertretbaren Zugang zu diesem Werk gefunden zu haben. Vor allem konnte man seinen finanziellen Vorstellungen für die Inszenierung nicht entsprechen. Oder hatte Meese die Kosten hochgefahren und damit gerechnet, dass Bayreuth ihn wieder ausladen würde? Des einen Ausstieg war jedenfalls der Einstieg des anderen. Um die letzten Dinge geht es ihm, um diese religiöse Komponente des Werkes, betont Uwe Eric Laufenberg, Intendant des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, der sich schon lange mit Wagners Werk beschäftigt und der als „Einspringer“ – was ja im Opernbetrieb gang und gäbe ist und nicht selten Karrieren beförderte – mit seiner Inszenierung nun die diesjährigen Festspiele in Bayreuth eröffnen wird.
Keine Frage, das Werk ist eine Herausforderung für Dirigenten. Auch deren Auffassungen sind unterschiedlich. Allein schon, wieviel Zeit sie brauchen, um Wagners Erlösungswerk zu vollenden. Was dem einen in etwas mehr als dreieinhalb Stunden gelingt, dafür braucht ein anderer fast fünf Stunden. An reinen Tempofragen wird es indes nicht gelegen haben, dass der vorgesehene Dirigent Andris Nelsons in der Probenendphase abreiste und nicht wiederkam. Über die Gründe des designierten Gewandhauskapellmeisters, den Serge Dorny, so er denn seine Stelle als Intendant der Sächsischen Staatsoper angetreten hätte, auch gerne als Dirigenten der Sächsischen Staatskapelle in der Semperoper gesehen hätte, wurde spekuliert und viel geschrieben. Seine verlässliche Äußerung steht noch aus.
Wieder rettet ein Einspringer diese Aufführung. Der Dresdner Dirigent Hartmut Haenchen, mit dem Dorny ebenfalls Pläne für Dresden hatte, gibt mit 73 Jahren sein Bayreuther Debüt. Das ist diesem mit Wagners Werk bestens vertrauten Künstler von Herzen zu gönnen! Dass im Zusammenhang mit der Berichterstattung dieser Rettungstat von Hartmut Haenchen aber auch einige Legenden und Unwahrheiten über die Aufführungen des »Parsifal« in der DDR aufgewärmt werden, ist schon kurios. So behauptete Haenchen bereits 2011, als er das Werk in Brüssel dirigierte, der »Parsifal« sei in der DDR verboten gewesen, und erst Herbert Kegel habe mit seiner konzertanten Aufführung des Rundfunks der DDR am 11. Januar 1975 in der Leipziger Kongresshalle dieses Verbot durchbrochen. Die Aufführung wurde einen guten Monat später im Rundfunk der DDR gesendet und erschien bei VEB ETERNA als Gesamtaufnahme 1978, später dann beim Label berlin classics als CD (hier meine Besprechung von 2006).
Und wieder rettet ein Dresdner Bayreuth
Sicher, die Kulturpolitiker der DDR taten sich nicht nur mit den religiösen Inhalten dieses Werkes schwer. Hätte Kegel mit dieser Aufführung wirklich ein Verbot des Werkes durchbrochen, dann hätte es immerhin in den Jahren zuvor insgesamt 34 illegale Aufführungen an Opernhäusern und vier konzertante Aufführungen gegeben. Nun war es ja üblich, in der DDR verbotene Werke an ungewöhnlichen Orte aufzuführen, etwa in Kirchen, aber dafür war wohl gerade der »Parsifal« nicht geeignet, und so war es auch nicht! Nein, es war an der Berliner Staatsoper, noch im Interim, dem Admiralpalast, dass der »Parsifal« unter der Leitung von Joseph Keilberth am 7. April 1950 seine DDR-Premiere feierte. Namhafte Sänger wie Jaro Prohaska, Josef Metternich, Gottlob Frick und Heinrich Planzl gehörten zum Ensemble mit Erich Witte in der Titelpartie und Martha Mödl als Kundry. Bis 1955 fanden elf Aufführungen der Inszenierung von Wolf Völker statt. Keilberth, der zwei Jahre später seinen Einstand in Bayreuth gab, dirigierte auf dem Hügel den heute legendären Keilberth-»Ring«, den »Fliegenden Holländer«, »Lohengrin« und »Tannhäuser«, aber nie den »Parsifal«. Der war und blieb damals für den Kollegen Hans Knappertsbusch reserviert, und als der 1953 acht Wochen vor der Premiere absagte, sprang Clemens Krauss ein.
In Dessau, dem „Bayreuth des Ostens“, stand 1956 dann schon der nächste »Parsifal« auf dem Plan. Heinz Röttger und Janos Ferencsik waren die Dirigenten der Dessauer Inszenierung von Willy Bodenstein, die insgesamt acht Aufführungen erlebte, und in der auch Max Lorenz als Parsifal gastierte. Bodenstein war auch der Begründer und Leiter der Dessauer Richard-Wagner-Festwochen, bei denen in den Jahren 1953 bis 1965 bis auf die Frühwerke »Die Feen« und »Das Liebesverbot« alle Werke Wagners aufgeführt wurden.
Das Deutsche Nationaltheater in Weimar brachte »Parsifal« im April 1957 unter dem Dirigenten Heinz Finger und dem Regisseur Ernst Kranz heraus. Insgesamt 15 Aufführungen gb es von dieser Inszenierung bis 1960. Dazu kamen je zwei konzertante Aufführungen, 1953 in Gera unter Albert Grüneis, 1961 unter der Leitung von Günter Blumhagen in Karl-Marx-Stadt, heute wieder Chemnitz. Dies war aber keine vollständige Aufführung. Im Rahmen der Sonderkonzerte erklangen Ausschnitte aus den drei Akten – ohne Chor und ohne Pause. Allerdings erinnerte sich 1989 der Opernregisseur Helmut von Senden, der 1951 in die DDR gekommen war und an verschiedenen Theatern arbeitete (zuletzt bis Ende der 70er Jahre in Altenburg), dass auf politischen Druck eine für 1959 geplante Inszenierung in Magdeburg nicht zustande kam. Von Senden inszenierte stattdessen den »Rienzi«; Premiere war am 28. Juni 1959, das Werk erlebte danach 32 Aufführungen.
Diese Fakten, dazu weitere aufschlussreiche Informationen, kann man Werner P. Seiferths grandioser Dokumentation »Richard Wagner in der DDR – Versuch einer Bilanz« entnehmen. Hier sind auch die weiteren Inszenierungen und konzertanten Aufführungen bis 1989 dokumentiert, so die berühmte Inszenierung von Harry Kupfer, die 1977 an der Berliner Staatsoper unter der Leitung von Otmar Suitner herauskam, bis zu Ende der DDR über 30 Aufführungen erlebte und weiterhin auch im Repertoire blieb. Neben Suitner dirigierten hier auch Heinz Fricke, Wolfgang Rennert, Ernst Märzendorfer, Wolf-Dieter-Hauschild oder Siegfried Kurz. An zwei Abenden stand auch Hartmut Haenchen am Pult der Berliner Staatskapelle.
Im Rahmen der Berichterstattung anlässlich seines jetzigen Dirigats in Bayreuth wird zitiert, dass er sich daran erinnere, dass zu diesen Aufführungen nur Mitglieder des Staatssicherheitsdienstes der DDR Zugang hatten. Das ist nach meinen Erinnerungen bei Aufführungen mit anderen Dirigenten nicht der Fall gewesen; jedenfalls gab es die Karten für Studenten wie üblich ohne Nachweis irgendwelcher politischer Verpflichtungen. Ich habe zwei Aufführungen unter Suitner erlebt.
Bis 1990 erlebte auch die Leipziger Inszenierung des »Parsifal« von 1982 insgesamt 13 Aufführungen unter der Leitung von Wolf-Dieter Hauschild und Johannes Winkler.
Winkler gehörte auch nach der Premiere am 21. Mai 1988 unter Hans Vonk zu den Dirigenten, die die Dresdner Inszenierung von Theo Adam in der Semperoper übernahmen, mit Eberhard Büchner in der Titelpartie und Uta Priew als Kundry. Bis 1989/90 gab es zwölf Aufführungen, teilweise auch unter der Stabführung von Hiroshi Wakasuki oder Wolfgang Rennert; die Inszenierung blieb noch bis 2010 im Dresdner Repertoire.
In Dresden war es auch, im Rahmen der Musikfestspiele 1979, wo eine grandiose konzertante Aufführung des »Parsifal« stattfand, mit der Dresdner Philharmonie unter der Leitung von Herbert Kegel im Kulturpalast. Sven Olaf Eliasson war der Parsifal und Ludmila Dvorakova die Kundry.
„Die Dinge über Gebühr zu mystifizieren, hat Haenchen nicht nötig“
Nach Kegels erster konzertanten Aufführung 1975 in Leipzig hatte Haenchen den Plan, eine Inszenierung in Schwerin herauszubringen, wo er 1976-79 Chefdirigent der Mecklenburgischen Staatskapelle und Musikdirektor des Mecklenburgischen Staatstheaters war. Bis zur Hauptprobe ließen die Machthaber das Ensemble gewähren; dann verboten sie die Aufführung der Inszenierung von Operndirektor Matthias Otto. Möglich waren nur zwei konzertante Aufführungen, am 25. März und am 15. April, über die man aber in der DDR sprach und für die man versuchte, Karten zu ergattern. Haenchen hatte sich längst einen Namen gemacht; Schwerin entwickelte sich zu einem Pilgerort, denn hier konnte man so ungewöhnliche wie interessante Aufführungen erleben. Das Opernensemble mit dem Tenor Michail Tschergow, der unter Haenchen den Parsifal sang oder mit der expressiven Sopranistin Gisela Hudewenz als Kundry lockte so manche Interessenten, insbesondere aus Berlin an.
Jetzt dürfte der Dirigent Hartmut Haenchen das Interesse auf die Bayreuther Aufführungen lenken. Für ihn, den Unangepassten, dessen persönliche, künstlerische und politische Biografie sich auf seiner Homepage liest wie ein Kunstkrimi, der aber immer auch den spirituellen Bezügen in der Musik folgte und die Grenzen der Wahrnehmung bei seinen Zuhörern oft erweiterte, ist das Einspringen auf dem Grünen Hügel ein spätes, aber sicherlich nicht zu spätes Debüt an einem außergewöhnlichen Ort. Es war ja nicht das erste Mal in Bayreuth, dass ein Dirigent kurz vor einer Parsifal-Premiere das Handtuch warf und ein später Einspringer als Ersatz-Heilsbringer gefeiert wurde. Die Dinge aber über Gebühr hinaus zu mystifizieren, haben weder Haenchen noch das Werk nötig.