So. Nachdem nun klar ist, dass die fristlose Kündigung für den seinerzeit vertraglich verpflichteten Intendanten der Sächsischen Staatsoper von 2014 unrechtmäßig ist, ließ ein Sprecher des Sächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst kürzlich wissen, man halte den Streit für beendet und äußerte die Erwartung, dass Dorny nicht mehr an die Semperoper zurückkehren werde. „Das Ministerium sehe auch keine Anzeichen dafür, dass es zu einer finanziellen Belastung des Freistaats komme“, heißt es weiter.
So, wie man Dorny, der inzwischen wieder Intendant der Oper in Lyon ist, einst in den Himmel lobte, so erwartet man jetzt, dass er nicht mehr zurückkehrt. Aber eigentlich, so kann man das ja auch verstehen, es wäre möglich! Schlimmstenfalls, falls man sich mit seinem designierten Nachfolger auch überwerfen würde, könnte man ja auch seitens des Sächsischen Ministerium darauf bestehen, dass Dorny seinen Vertrag erfülle und doch noch nach Dresden komme. Zur Not könnte man ja auch den noch bestehenden Vertrag verlängern…
Warum mir das in den Sinn kommt? Ich habe, wie üblich, kurz bevor europaweit die neue Saison der Oper und des Balletts beginnt, einmal nachgesehen, was denn da so in Lyon geplant ist. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus – und frage mich seitdem, wie einem Opernhaus wie der Sächsischen Staatsoper wohl ein solches Konzept zu internationalem Ansehen verhelfen könnte, welches weit darüber hinaus geht, sich darauf zu begründen, dass man eine bekannte Sängerin für vier Abende verpflichtet und sich im Vorfeld mehrere Wochen lang darüber auslässt, wie lange sie denn gebraucht habe, um die Partie in der Originalsprache zu erlernen.
Aber zurück nach Lyon. Da gibt es in er kommenden Saison ein Festival der Erinnerungen: »Festival Mémoires«. Drei Abende, drei Opern, drei außergewöhnliche Inszenierungen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Erinnerungen führen nach Dresden, nach Bayreuth, zum Festival d´Aix-en-Provence und zu den Wiener Festwochen. »Elektrissima« schrieb der Dresdner Kritiker Peter Zacher 1986 in höchster Begeisterung anlässlich der Inszenierung der Oper »Elektra« in der Semperoper. Sein Jubel bezog sich auf die musikalische Leistung und vor allem auf die Inszenierung von Ruth Berghaus im Bühnenbild von Hans-Dieter Schaal mit den Kostümen von Marie-Luise Strandt. Jede Figur dieser Inszenierung, so der Strauss-Spezialist Ernst Krause, sei, „wie gemeißelt, eindeutig.“ Am Pult der Staatskapelle stand damals Hartmut Haenchen, vom Beginn an engagierter Mitstreiter für dieses ungewöhnliche Projekt, bei dem das Orchester mit seinen 126 Musikern auf der Bühne platziert war und gewissermaßen aus den Flächen dieser Klangtragödie ein hochragender Bau, ein Turm aufragte, auf dessen Etagen und Vorsprüngen die Menschen darauf warten, dass etwas geschehe, dass sich etwas verändere, dass andere etwas für sie machen würden. Ruth Berghaus interessierte in ihrer dritten Inszenierung dieser Oper von Richard Strauss, wie bei solchen wartenden Menschen, „Warten und Rachsucht am Leben hält und zerstört“, so in dem Buch »Das Theater der Ruth Berghaus« von Sigrid Neef. Erst im Nachhinein erschloss sich vielleicht, was es 1986 bedeutete, die Frage an das Publikum weiterzugeben, wie tauglich oder untauglich Rache als Motor der Existenz ist.
Es wird spannend sein, wie sich diese Inszenierung im Jahre 2017 erschließen wird. Über die wuchtige Kraft der Bilder der Unaufhaltsamkeit dieser Tragödie hinaus? Wie werden sich dann die Fragen nach „Macht und Ohnmacht der inneren Emigration“ beantworten lassen, die Ruth Berghaus im Gespräch mit Peter Zacher stellte, in dem sie zu dem Schluss kam, „Die Feindseligkeit an sich ist tödlich für alle“? In Lyon steht wiederum Hartmut Haenchen am Pult. Die Rekonstruktion der Inszenierung übernimmt Ingolf Huhn, seinerzeit als Meisterschüler von Ruth Berghaus ihr Assistent, jetzt Intendant des Eduard von Winterstein Theaters in Annaberg-Buchholz. Die Titelpartie singt Elena Pankratova, die in der letzten Saison als Elektra ihr grandioses Debüt in Dresden gab und derzeit in Bayreuth unter der Leitung von Hartmut Haenchen die Partie der Kundry in dem Bühnenweihfestspiel »Parsifal« singt.
Haenchen wird auch am Pult stehen, wenn in Lyon Heiner Müllers exemplarische Inszenierung von Wagners »Tristan und Isolde« von 1993 aus Bayreuth, jener „Geometrie des Todes“ im Bühnenbild von Erich Wonder, wie Eckhard Roelcke damals in der ZEIT schrieb, in der Rekonstruktion durch seinen langjährigen Mitarbeiter Stephan Suschke das dreitägige Festival abschließen wird.
Heiner Müllers Inszenierung war damals heiß umstritten. Ihm war das schnuppe, ihn – so zitierte ihn DER SPIEGEL – interessiere nicht das Publikum, sondern der Tristan und, „Es kann nur etwas Neues entstehen, wenn man das macht, was man nicht kann“. Da hatte er wohl doch ein wenig tief gestapelt; in der FAZ hieß es nach der Premiere, „Das Ergebnis konnte sich vor allem sehen lassen: in der subtilen Lichtdramaturgie des Bühnenbildners Erich Wonder und den Kostümen des Couturiers Yohiji Yamamoto und einer durchaus nicht bilderstürmerischen, vielmehr nahezu statischen, gleichwohl suggestiv wirkenden Regie.“ Im Rückblick heißt es 2014 anlässlich einer Inszenierung des »Tristan« in Stuttgart durch Jossie Wieler und Sergio Morabito, Heiner Müller habe in seiner Bayreuther Inszenierung gut zehn Jahre zuvor das Stück als Geschichte einer Entfremdung gelesen. So wie es nicht möglich ist, Müllers Texte „auszulesen“, so dürfte es wiederum so interessant wie spannend sein, fast 25 Jahre nach der Bayreuther Premiere diese Aufführung erneut zu sehen, zu hören, zu erleben.
Als Isolde kehrt die Dänische Sopranistin Ann Petersen zurück nach Lyon. Sie sang diese Partie dort schon 2011 in der Inszenierung von Alex Ollé, La Furra dels Baus, unter der musikalischen Leitung von Kirill Petrenko. Ein Kritiker war damals von der Sängerin so begeistert, dass er schrieb, „In Lyon müsste der verkürzte Titel des Musikdramas Isolde heißen“. Im Oktober singt Ann Petersen unter der Leitung von Christian Thielemann an der Dresdner Semperoper die Partie der Freia in der Wiederaufnahme »Das Rheingold«.
Ruth Berghaus starb 1996 im Alter von 68 Jahren. Ein Jahr zuvor starb Heiner Müller im Alter von 66 Jahren. Und mit 67 Jahren starb 2008 der Regisseur und Schauspieler Klaus Michael Grüber. Für den Kritiker Gerhard Stadelmair war Grüber ein „Genie der Demut“, er „setzte nicht in Szene, es setzte in Welten.“ Grüber scheute sich nicht von „Tränen“, „Ergriffenheit“ oder „Hingabe“ zu sprechen, und wenn er davon sprach, so Stadelmair, „dann nicht im Sinne von Gefühligkeit. Sondern im Sinne eines tief gehenden Erschreckens.“ Vom „Scheitern des Theaters an der Wahrheit des Lebens“ sprach Georg Hensel anlässlich einer Inszenierung Grübers von Pirandellos „Sechs Personen suchen einen Autor“.
Von Grabsteinen als Statisten war die Rede, als Klaus Michael Grüber 1995 für das Kunstfest in Weimar auf dem Ettersberg, im Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers den sowjetischen Ehrenfriedhof zur Bühne für das Drama »Bleiche Mutter, zarte Schwester« von Jorge Semprun, der das Konzentrationslager überlebt hatte, umfunktionierte. In der WELT beschrieb Reinhard Wengierek die nächtlichen Szenen: „In der Ferne heulen Hunde, ein Pfau schnarrt herüber vom Schloss Belvedere; Goethe schreitet zwischen den Gräbern, begrüßt murmelnd Gestalten aus der deutschen Geschichte, ein paar dunkle Figuren bestatten im Hintergrund Tote des Zweiten Weltkriegs.“
Grüber, der die Bühne zur Welt weitete und geschichtsträchtige Orte der Welt, wie das Berliner Olympiastadion für sein außergewöhnliches Hölderlin-Projekt »Winterreise«, zum Theater werden ließ, hat auch immer wieder Opern inszeniert. Für das Festival d´Aix-en-Provence inszenierte er 1999 Claudio Monteverdis Spätwerk »L’incoronazione di Poppea«, ein Jahr darauf folgte die Wiederaufnahme und eine Aufführungsserie zu den Wiener Festwochen. In seinem Aufsatz »Die Radikalität der Liebe – Thanatos und Eros in Inszenierungen von Luc Bondy und Klaus Michael Grüber« in der Wochenzeitschrift „Der Freitag“ schrieb Klaus Dermutz, dass Grüber in seiner Inszenierung nicht wie üblich in diesem Werk die Machtspiele interessieren würden.
„Er nimmt die Liebe zwischen Nero und Poppea ernst. Die Empfindungen der beiden Liebenden sprengen wie von selbst eine Ehe zwischen Ottavia und Nero. Grübers L’incoronazione di Poppea lebt von der Unbedingtheit der Liebe. Die Imagination von Grübers Regie ergibt sich aus einer Radikalität der Emotionen. Die Liebe wird als der eigentliche Regent des menschlichen Lebens gezeigt. Grüber folgt jenen Regungen, die Nero und Poppea in ihrer Zuneigung bei sich selbst wahrnehmen. Es ist jene Empfindung, die die Seele öffnen und den Körper von Angst befreien.“ In Lyon wird Klaus Michael Grübers langjährige Assistentin und Mitarbeitern Ellen Hammer, die hier schon 2009 seine Inszenierung »La Traviata« einstudiert hatte, nun Monteverdis Werk mit den Solisten des Studios der Oper Lyon und dem Ensemble Les Nouveaux Caractères unter der Leitung von Sébastien d´Hérin auf die Bühne des Théâtre National Populaire bringen.
Dass eine Operninszenierung von Klaus Michael Grüber in diesem Festival der Erinnerungen in Frankreich rekonstruiert wird, schließt den Kreis. Grüber lebte in in Paris, Jeanne Moreau sah in ihm den eindrucksvollsten Regisseur ihres Lebens, und in einem Nachruf im Tagesspiegel erinnerte Peter von Becker auch an den Filmschauspieler Klaus Michael Grüber: „Den vom Leben oder den Göttern geschlagenen Trinkern und Träumern blieb er immer nah, und im Film hat er in den »Liebenden von Pont-Neuf« mit der jungen Juliette Binoche den zärtlichen, verstruppten, mehr als nur rotweinseligen Clochard wunderbar selbst gespielt.“ Seine letzte Arbeit im Jahre 2008 bei den Salzburger Festspielen, die Inszenierung der zeitgenössischen Oper »Die tödliche Blume« von Salvatore Sciarrino, musste er wegen einer Erkrankung abbrechen.
Drei Tage im März des nächsten Jahres in Lyon. Drei Tage Erinnerungen mit wegweisenden Operninszenierungen, die es garantiert verdienen, erneut wahr genommen zu werden. Eine dieser Produktionen, »Elektra« von Ruth Berghaus, kommt aus Dresden. Und aus Dresden kommt auch der Dirigent. Hartmut Haenchen dirigiert zudem die Aufführungen »Tristan und Isolde«. Der Intendant, dessen weitblickende Konzepte so etwas möglich machen? Er heißt Serge Dorny. Was hätte das geben können in Dresden! Aber: Frau Schorlemer hatte sich ja entschieden.