Neben der noch ein Jahr geöffneten Ausstellung zum Thema »Sprache« hat das Hygiene-Museum in Kooperation mit dem KlangNetz Dresden die reich und vielfältig bestückte Veranstaltungsreihe »SprachSpiele« ins Leben gerufen. Sie widmet sich dem Zusammenwirken von Sprache und Musik, der Abwesenheit von Musik in Sprache, dem Aufgehen von Sprache in Musik, der Sprachähnlichkeit, der Sprachlosigkeit. Lohnens- und lobenswert ist dabei vor allem auch der häufig inter-, trans-, multi-, poly-, hyper- und überkulturelle Blick über den westeuropäischen Tellerrand. Vielen der »SprachSpiele«-Veranstaltungen sind ungewöhnliche Vermittlungsprojekte beigemischt (Schüler-, Flüchtlings-, Jugendtreffgruppen, Flashmobs und so weiter), die nicht selten auch das Publikum aktiv einbeziehen. So ist auch der kürzlich erstmalig veranstaltete Dialog-Salon zum Thema »Bedingungen einer Kommunikation — musikalisch und demokratisch betrachtet« zu lesen: in der illustren Rednerrunde — Prof. Dr. Werner Patzelt (Politik- und Sozialwissenschaftler an der TU Dresden und selbst Musiker und Dirigent), Octavian Ursu (ehemals Solotrompeter der Neuen Lausitzer Philharmonie und nun CDU-Landtagsabgeordneter), Prof. Frank Zabel (Komponist, Pianist und Dozent an der Musikhochschule Düsseldorf) und Prof. Lennart Dohms (Dirigent, Leiter des Ensembles El Perro Andaluz und Dozent an der Hochschule der Künste Bern); Moderation: Prof. Ekkehard Klemm (Dirigent, Komponist und Dozent an der hiesigen Musikhochschule) — war immer ein Stuhl frei, auf den sich ein williger Publikumsgast jederzeit setzen konnte, um neue Impulse ins Gespräch einzubringen. Dieser sogenannten „Fishbowl“-Situation sah man jedoch mitunter so gespannt von außen zu, dass man gar nicht selbst in die Mitte des Goldfischglases wollte… War es Scheu oder Desinteresse, Unverständnis oder Sprachlosigkeit? Genutzt wurde der „heiße Stuhl“ leider kaum. Was allerdings mitnichten an den anderen Gesprächsteilnehmern lag!
Nur Zabels einführende Worte, in denen es um „Bedingungen der Kommunikation“ ging, gerieten zum historischen und musiktheoretischen Rundumschlag zur Polyphonie, also zur Mehrstimmigkeit – und verfielen dabei in einen monotonen Vorlesungscharakter. Auch für nur geringfügig musikalisch Vorgebildete wurde dies schnell ermüdend: Einem Publikum, das zu einer Veranstaltung von KlangNetz Dresden und dem DHMD an einem sonnigen Mittwochabend kommt, muss, so denke ich, Mehrstimmigkeit nicht am Beispiel von Bach-Fugen, Mozart-Opern und »La Mer« erklärt werden. Erfrischender waren da schon die Einblicke in die demokratische Probenarbeit des Ensembles El Perro Andaluz, die zeigten, dass ein Dirigent — wenn er sich auch zum „Sonnenkönig“ tituliert — nicht immer vonnöten ist. Diese Pilotfolge der Dialog-Salons, deren Fortsetzung am 21. September folgt, zeigte interessante Möglichkeiten interaktiver und transdisziplinärer Musikvermittlung. Mit Anne Kussmaul konnte dafür eine erfahrene Musikerin und Vermittlerin gefunden werden, die spannende Ansätze in die Diskussion einbringen wollte. Dass dies mitunter noch nicht so ganz gelang – geschenkt. Nächstes Mal wirds besser.
Umso schöner, wenn anfängliche Unsicherheit zur eigentlichen Inspirationsquelle wird. Darum die große Anzahl von Musikvermittlungsprojekten mit Kindern und Jugendlichen, die sich vor allem der Annäherung an zeitgenössische Musik heranwagen. So auch mit El Perro Andaluz. Mit dem Stadtteilzentrum Emmers wurde ein einwöchiger Workshop veranstaltet zum Thema Hip-Hop: „Darin ging es […] um das Suchen und Finden von Wörtern bzw. Tönen, für das, was Mädchen und Jungen täglich durch Herz und Kopf geht“ (aus dem Programmheft). Los ging es auf der Mitteletage unterhalb des Großen Saals. Dort präsentierten 12- bis 15-jährige ihre Ergebnisse des Sommerworkshops, unterstützt von den drei Ensemblemitgliedern Arnfried Falk, Torsten Reitz und Albrecht Scharnweber. Rappen, singen und klatschen zu den rhythmischen Eingaben von Bassklarinette und Beat-Maschine — denn ohne Beat kein Hip-Hop! — über Textfragmente aus der UN-Menschenrechtscharta, aber auch zu eigenen Gedanken und alltäglichen Erlebnissen aus einem Dresdner Kinderleben im Sommer 2016. Manches erinnerte an vergangene Projekte, in denen Kinder und Jugendliche über „ihre“ Musik an die großen Goethe Balladen und Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland herangeführt werden sollten.
Im Anschluss: Auftritt eines Maskierten, der fordert: „Folgen Sie mir auf Schritt und Wort.“ Nico Sauer (*1986) trägt eine papierne Maske seiner selbst, die nun auch jeder Konzertgast tragen müsse: „Ohne Maske sind Sie nicht Teil des Experimentes und dürfen den Konzertsaal nicht betreten.“ Da braucht es keine Gesichtserkennungssoftware. Dein Gesicht gefällt mir nicht, du kommst hier nicht rein! Aber keine Sorge, gibt Sauer dem noch immer skeptischen Publikum zu verstehen: „Keiner verliert sein Gesicht.“ »Being Nico Sauer« — in Anlehnung an einen der Kultfilme der späten 1990er sind wir nun alle Nico Sauer. »Love Me« (2016, UA): Das Publikum läuft durch das Instrumentalensemble, die — alle Sauer-uniform in Blue Jeans und weißem T-Shirt — nur einzelne Klänge einander oder an den Raum weitergeben. Endlos gestreckt erklingen die Billig-Gitarren und kurze Schlagzeug-Pattern, Schnipslaute… und durch das Publikum immer wieder auch Klicklaute der Fotoapparate und Smartphones. „Mittendrin statt nur dabei“ wird selten so nah und grenzenlos im zeitgenössischen Konzert gelebt. Und zwischendurch unterhalten sich Gehörlose in Gebärdensprache, wild gestikulierend, aber eben stumm. Sind sie Teil der Komposition oder der unvorhersehbaren Inszenierung? Love Me ist eine hörens- und sehenswert — und immer wieder aufführungswürdige — Versuchsordnung einer Umarmung von Publikum und Interpret. Bühne und Tribüne lösen sich auf, ebenso auch die Individuen der Nico Sauer-Masken, die viele Gäste tatsächlich den gesamten Konzertabend über aufbehielten und als willkommenes Andenken mit nach Hause nahmen.
Urzeitlich trommelte sich im Anschluss Sabrina Ma (als Gast) durch Brian Ferneyhoughs »Bone Alphabet« für Schlagzeug solo (1991/92), welches Ferneyhough für Steven Schick schrieb, der damals um eine Komposition „für eine Gruppe von Instrumenten [bat], die kleine genug sind, um bei einer Flugreise der Aufführenden im Handgepäck Platz zu finden“ (aus dem Programmheft). Fernheyhough verfasste daraufhin das Stück derart aleatorisch, dass sich der Interpret die sieben Instrumente selbst aussuchen darf. Ma wählte eine fernöstlich anmutende Instrumentierung: Ja, so könnten die skeletthaften Totentänze aus den uralten indischen Märchen der Panchatantra geklungen haben — gewaltig, gebrechlich, gewitzt. Man sagt gerade Schlagzeugern ja häufig eine traumwandlerische Sicherheit nach, wie sie da so über mehrere Quadratmeter ihres Instrumentariums hinweghuschen, nicht mal Zeit genug, sich das Haar aus dem Sichtfeld zu wischen — und dabei alles auswendig, denn fürs Notenlesen bleibt nun wirklich keine Zeit! Mit eindrucksvoller Körperbeherrschung stellte Sabrina Ma die hochkomplexen Ferneyhoughschen Strukturen zur Schau. Beeindruckt ging das Publikum in die Pause.
Mit den pittoresken Miniaturen »Wörter, Bilder, Dinge« (1989/91) von Hans Wüthrich-Mathez begann der zweite Konzertteil in Webernscher Manier, allerdings ohne die Strenge der reihenarchitektonischen Konstruktion. Das von Tomas Westbrooke angeführte Streichquartett begleitete auf subtile Weise die weit ausschlagenden Partien des Gesangs, dem Elisabeth Holmer mit ihrem kühlen und weit gespannten Ambitus die durchweg gut verständliche Stimme lieh. Spannung und Interesse konnte die überlange Komposition jedoch nicht aufrechthalten. Die mitunter aphoristische Kürze der einzelnen Nummern, in denen lediglich Fragmente, Wörter und Wortschnipsel — die Wüthrich-Mathez aus einzelnen Artikel der Menschenrechtskonvention ableitete, in ägyptische Hieroglyphen und dann wieder in mitteleuropäische Sprachen rückübersetzte, um musikalische Formen und Wörter abzuleiten — zum Vorschein kommen, könnten bspw. eine crossmediale Aufbereitung erfahren, um auch auf visueller Ebene zu vermitteln, was sich ohne Programmheft schlankweg allein durch die Musik nicht vermitteln ließe.
Für das, was Helmut Oehring seit geraumer Zeit seinem Publikum zu Gehör bringt, fehlen einem tatsächlich ein ums andere Mal die Worte. Mitte der Neunziger Jahre fing er an, Gebärdensprache in seine Werke als eigenständige Stimme zu integrieren. »Wrong, Schaukeln-Essen-Saft« (1993/95) war seinerzeit das „erste Werk komponierter Musik mit Gebärdensprache in einer zentralen, solistischen Position“ (Programmheft). In dionysischem Durcheinander wirbeln sich Oboe, Bassklarinette, E-Gitarre, Schlagzeug und Viola durch die Partitur, eine Krachmacherei, die die taubstumme Gebärdensolistin Christina Schönfeld (auch Interpretin der Uraufführung) nur visuell und vielleicht noch körperlich wahrnehmen kann. Alldieweil sie hochartistisch und mit großem Ausdruck den im Programmheft abgedruckten Text gebärdet. Das ist Schauspiel, das ist Drama! Am meisten aber ist es mimische Kunst. Gebärdensprache drückt sich nicht allein über die Hände, den Körper aus: das vielgestaltige Arsenal an Gesichtsausdrücken ist dabei ganz entscheidend. Mit den Armen scheint Schönfeld für Zuschauer, die die Gebärdensprache nicht beherrschen, den Dirigenten Dohms zu spiegeln. Doch dann schimmern auf einmal in den Gesichtern der Instrumentalisten Ausdrücke Schönfeldscher Mimik auf … Das Gebärdechaos aus musikalischen und Körpergesten versinkt in verzerrten Gitarrenklängen, die alles in sich aufgesogen haben: Worte, Klänge, Bewegungen. Und dann Stille. Bis langer Applaus den Großen Saal des Deutschen Hygiene-Museums füllte und das dritte Konzert der »SprachSpiele« beschloss. El Perro Andaluz haben sich erneut als hörenswertes Instrumentalensemble bewiesen, mit Sinn für Interpretation und Konzertgestaltung. Die Veranstaltungsreihe des KlangNetz Dresden wird am 15. September fortgesetzt mit einer Sprach-Klang-Licht-Performance von Günter Heinz und SchülerInnen des IBB Ganztagsgymnasiums Dresden.
Peter Motzkus