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Sie wollte doch nur tanzen

Gret Palucca sprach so gut wie nie über ihr Leben im Dritten Reich. Bis zuletzt hielt sich daher etwa die Behauptung, sie habe während der Nazizeit Berufsverbot gehabt. Stattdessen reüssierte die „deutscheste Tänzerin“ zur Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 als Tischdame des Führers.

Eine einstündige Tanz-Zeremonie eröffnete die Olympiade in Rio. Buhs und Pfiffe gab es für den amtierenden Präsidenten, dessen Begrüßungsrede man schon vorsorglich kurzfristig gestrichen hatte, aber bei seiner knapp gehaltenen, unverzichtbaren Eröffnungszeremonie entlud sich der Zorn. Er wurde ohrenbetäubend niedergebrüllt. Die Organisatoren reagierten schnell, spielten Musik ein und zündeten das geplante Feuerwerk früher.

In Berlin, vor 80 Jahren, wurde auch getanzt zur Eröffnung der Olympischen Spiele in der Reichshauptstadt. Buhs und Pfiffe gab es nicht, im Gegenteil. Es wurde gejubelt. Die Berliner Philharmoniker spielten Händel. Halleluja!
Richard Strauss hatte eigens eine Hymne komponiert, allerdings schon zwei Jahre zuvor; es mag für ihn sprechen, dass er noch nicht absehen konnte oder wollte, für wen er hier Lobgesänge anstimmte. Als er aber 1938 das Konzert zur Eröffnung der Ausstellung »Entartete Kunst« in Düsseldorf dirigierte, müsste er eigentlich mitbekommen haben, was hier im Gange war. Oder nicht?

Bei seiner Sicht auf neuere Strauss-Biografien musste Wolf-Dieter Peter noch vor zwei Jahren feststellen, dass ein „Desaster“ von 1943 noch immer keinen Eingang gefunden hatte. Denn „während in New York Kurt Weill, Franz Werfel und Max Reinhardt im Madison Square Garden vor 20.000 Besuchern mit ‚We will never die‘ den Judenmord anklagen, empfängt Richard Strauss den NS-Verbrecher Hans Frank, der im sogenannten „Generalgouvernement“ für die millionenfache Vernichtung von Juden mitverantwortlich ist, in Garmisch mit der Liedkomposition „Wer tritt herein, so fesch und schlank? Es ist der Freund, Minister Frank. Wie Lohengrin von Gott gesandt, hat Unheil er von uns gewandt. Drum ruf ich ‚Lob und tausend Dank‘ dem lieben Freund, Minister Frank!“ Hier schlägt nun wahrlich, so Peter, „desaströse Naivität in ein moralisches Defizit um“.

Wollten sie sich und ihre Kunst retten?

Wie desaströs war die Naivität bei Tänzerinnen und Tänzern, zum Beispiel bei denen, die besonders mit Dresden verbunden sind, Mary Wigman, ihre Schülerin Gret Palucca und ihr Schüler Schüler Harald Kreuzberg? Gibt es da auch moralische Defizite zu bewerten, oder wollten sie einfach ihre Kunst, ihre Existenzen, ihre Schulen in Dresden retten?

Als 1919 die junge Elevin des Münchner Nationalballetts Gret Paluka in Dresden gastierte, sah sie eine Vorstellung von Mary Wigman. In einer 1972 veröffentlichten Erinnerung, die sich im Buch »Palucca. Aus ihrem Leben – über ihre Kunst« von Peter Jarchow und Ralf Stabel findet, äußert sich Palucca, wie sie sich ab 1953 nannte, dass für sie klar war: „Entweder lerne ich bei ihr tanzen, oder ich lerne es nie! Hier war der neue Tanz, der meinem Ideal entsprach – hier war der Mensch und Führer, den ich brauchte.“
Dieser „Führer“ Wigman hat dann auch ganze Arbeit geleistet. Bei Paluccas Auftritten zur Eröffnung der Olympiade im August 1936 wird man sie neben Harald Kreuzberg und Mary Wigman als „deutscheste Tänzerin“ feiern. Sie war, so der Tanzkritiker Klaus Geitel am 8. Januar 2002 in der Berliner Morgenpost zu ihrem 100. Geburtstag, „das Strahlemädchen. Sie tanzte die Zuversicht.“ Kreuzberg tanzte einen heldischen, am Ende aber tödlichen „Schwertertanz“, Wigman mit ihrer Gruppe eine „Totenklage“. Beim Anschließenden Festbankett war Palucca die Tischdame des Führers – jetzt des richtigen.

Palucca sprach nie über diese Zeit ihres Lebens

Geitel verweist auch darauf, dass sie sich geschmeichelt fühlte, aber sicher nicht so naiv war zu wissen, wie wenig dieser Erfolg des Augenblicks galt. Die Zeit und die Politik würde sich gegen sie als Halbjüdin wenden. 1939 muss sie ihre Schule in Dresden schließen. Von Repressalien gegen sie ist indes nichts bekannt. Ein generelles Auftrittsverbot traf sie nicht; es war ihr gelungen, eine Sondergenehmigung zu bekommen. Palucca tanzte bis zum bitteren Ende.

„Sie deshalb nachträglich zu schmähen, wie es heute gelegentlich geschieht, bezeugt nur Unkenntnis der tagtäglich geforderten Überlebenskünste im Dritten Reich“, schreibt Geitel in seiner Hommage zum 100. Geburtstag, als Reaktion auf immer wieder aufkommende Diskussionen im Vergleich mit Künstlern, die das Dritte Reich verlassen hatten, gar ihr Leben lassen mussten. Ironisch fügt er hinzu, dass sie damals kreuz und quer durch die Lande tanzte, „zur Musik von Corelli, Scarlatti, Pergolesi. Sie tanzte ausgiebig Schumann. Sie wählte sich die denkbar populärsten Melodien: eine Madame André Rieu sozusagen, die mit ihren Beinen zu musizieren verstand. Palucca überlebte. Es gelang der künstlerischen Liebedienerin, trotz ihrer ununterbrochenen tänzerischen Leistungen die Anerkennung als Opfer des Faschismus zu finden. Tatsächlich aber waren die Opfer ganz andere.“

Palucca sprach so gut wie nie über diese Zeit ihres Lebens. Sie wurde wohl auch nie – jedenfalls finden sich bislang keine Hinweise darauf – dazu eingehend befragt. Noch zum 100. Geburtstag gab es Lobestexte, wie den von Bernd Hahlweg in der der Märkischen Allgemeinen, die von einem Auftrittsverbot während der Nazizeit sprechen. In anderen Texten wird argumentiert, dass sie mit den Erfahrungen der Nazizeit bestens gewappnet gewesen sein müsste, mit den Machthabern der DDR und deren Misstrauen gegenüber der von ihr vertretenen Tanzmoderne in den Traditionen des Deutschen Ausdruckstanzes umzugehen.

Dass dieses Misstrauen vielleicht auch daher rührte, dass gerade die bekanntesten Vertreterinnen und Vertreter dieser Kunst so anfällig und daher zu missbrauchen waren für Kunstideologen und Propagandisten des Dritten Reiches, davon wird so gut wie nie gesprochen. Die deutschen Ausdruckstänzerinnen sind in der Rückschau eigentlich immer Opfer der marxistischen Kunstideologen gewesen, für die die Zukunft des Tanzes aus dem Osten kam, aus den Ballettschulen in Leningrad und Moskau. Auch hier mag es geradezu komisch anmuten, dass ja in den Kreisen des Deutschen Ausdruckstanzes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts „Ballett“ so etwas wie ein Schimpfwort war; bei den Nazis eigentlich auch, denn hier konnte man sich auf keinerlei deutsche Traditionen berufen. „Ist das Ballett deutsch?“, fragte etwa Fritz Böhme 1933 in der Allgemeinen Zeitung. Für Palucca beendete ein Autounfall im Jahre 1950 ihre Karriere als Tänzerin. Fortan war sie die prägende Kraft an der nach ihr benannten Schule in Dresden, als Lehrerin für den Neuen Künstlerischen Tanz. Ihren letzten Auftritt hatte sie 1951 zum Geburtstag von Wilhelm Pieck. Weitere Tänze vor Machthabern blieben ihr erspart; olympische Spiele wurden in der DDR nicht ausgerichtet. In dem Buch »Tanz unterm Hakenkreuz« schreibt Marion Kant, dass Palucca 1989 bekanntgab, dass sie „froh“ sei, „diese schlimme Zeit (gemeint ist die Zeit in der DDR) hinter sich zu haben“. Kant kommentiert: „Von staatlichen Behörden wurde Palucca nach ihrer Vergangenheit und nach ihrer Beteiligung an der nationalsozialistischen Politik nie befragt. Eine Diskussion über ihr Leben im Dritten Reich lehnte sie kategorisch ab.“

„Ich fürchtete mich vor dem deutschen Tanz, bis ich Mary Wigman sah“

Auch Mary Wigman, deren glühende Begeisterung für den, „Anruf des Blutes, der an uns alle ergangen ist“, und für sie tief das Wesenhafte trifft, die sich in Carl Reissners »Deutsche Tanzkunst«, Dresden 1935, dazu bekannte, dass deutsche Künstler heute bewusster denn je im Schicksal unseres Volkes stehen, hat sich später kaum zu ihrer Zeit im Nationalsozialismus geäußert. Es gibt einen Hinweis in ihren Tagebüchern, „Ortsgruppensitzung – zum Kotzen“, sie hatte in Dresden 1933 für ein Jahr die Ortsgruppenleitung der Fachschaft »Gymnastik und Tanz« übernommen und ihre Schule wurde im gleichen Jahr Mitglied im Kampfbund für deutsche Kultur.

In seinem Buch »Mary Wigman – Ein Vermächtnis« zitiert Walter Sorell, der ihr sehr nahe stand und sie dennoch nicht dazu bewegen konnte, sich entsprechend zu äußern, im Kapitel »Im Schatten des tausendjährigen Reiches« ihren Essay in der Völkischen Kultur, in dem die „Schicksalhaftigkeit des gegenwartsbezogenen Menschen“ beschworen wird als „Phrase, die sehr dem nationalsozialistischen Gedankengut entsprach.“ Allerdings reagiert Sorell empört über eine Äußerung der amerikanischen Tanzikone Martha Graham. Die kam auf Mary Wigman zu sprechen und sagte: „Ich fürchtete mich vor dem deutschen Tanz, bis ich Mary Wigman sah. Dann wurde mir ganz klar, dass ich damit nichts zu tun habe. Es war eine andere Welt. Die Gestik war vollkommen anders. Es war ein Tanz der Aggressivität, einer kolonisierenden Nation. Das Image Barbarossas, an dem Deutschland noch immer festhält.“

Interessant in diesem Zusammenhang ist aber auch, dass Martha Graham eingeladen war, an der Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 in Berlin teilzunehmen. Sie lehnte ab! Mag sein, dass sie aus der Ferne besser einschätzen konnte, wie sehr dieses Spektakel instrumentalisiert werden würde, um von den sich bereits abzeichnenden Tendenzen des deutschen Wesens, an denen die Welt genesen sollte, abzulenken. Mary Wigman verkaufte ihre Dresdner Schule 1942 und verabschiedete sich im Alter von 55 Jahren auch als Solotänzerin, um fortan in Leipzig mit einem Gastvertrag an der Hochschule für Musik zu unterrichten. Obwohl man ihr nach 1945 Möglichkeiten bot, weiter in Leipzig zu unterrichten und an der Oper zu arbeiten, zog es sie in den Westen. Sie ließ sich in Westberlin nieder und arbeitete weiter als Lehrerin und Choreografin.

Man muss es wohl als bittere Ironie verstehen, wenn Marion Kant in dem zugegebenermaßen nicht unumstrittenen Buch »Tanz unterm Hakenkreuz« Wigmans berühmtesten Schüler Harald Kreuzberg als tanzenden Botschafter der Nationalsozialisten bezeichnet. Er, so Kant, „hatte nie etwas mit Politik zu tun, sondern tanzte nur.“ Die Tanzwissenschaftlerin fährt fort, Kreuzberg hätte nicht einmal bemerkt, „daß es einen Krieg in Europa gab“, auch nichts gewusst von Kriegsverbrechen. Kreuzberg setzte seine Karriere fast nahtlos fort. Er gründete eine Schule, absolvierte Gastspiele, tanzte in Bayreuth und Oberammergau. Hochgeehrt verabschiedete er sich 1959 in Hamburg von der Tanzbühne.

Wer tanzt mit wem – oder gegen wen?

Die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro sind zu Ende. Ungeachtet dessen stellen sich die Fragen nach den politischen Verstrickungen von Tänzerinnen und Tänzern, Choreografinnen und Choreografen. Die Macht buhlt immer um die Kunst, und die Kunst lässt sich bitten oder verweigert sich, aber sie geht auch, das wusste Lessing schon, nach dem Brot.

Dresden wäre der Ort, um diese Fragen zu stellen – und das Haus, in dem dies mit Veranstaltungen, Ausstellungen und Diskussionen geschehen könnte, ist auch da. In absehbarer Zeit wird die Sächsische Staatsoper jene Villa auf der Bautzner Straße, in der Mary Wigman von 1920 bis 1942 ihre Schule leitete, nicht mehr als Probenraum nutzen. Als Aufführungsstätte wird diese »kleine szene« schon lange nicht mehr genutzt. Mit Konzepten für die weitere Nutzung als »Villa Wigman für TANZ« hat sich ein Verein gegründet.

Die Frage, wer mit wem oder gegen wen tanzt, ist virulent. Das sieht man derzeit deutlich am Interesse für die Ausstellung »Das Echo der Utopien – Tanz und Politik« des Deutschen Tanzarchivs in Köln, in dem auch der Wigman-Nachlass aufbewahrt wird. Die im Oktober letzten Jahres eröffnete Kölner Ausstellung sollte eigentlich jetzt geschlossen werden. Nachfrage und Interesse machen eine Verlängerung nötig: bis zum 29. Januar 2017.

Weitere Quellen:
– „Tanzen in vier politischen Systemen“. Berliner Zeitung, Frank Junghänel
– Arila Siegerts Text-Archiv zum 100. Geburtstag von Gret Palucca
– Jörg Schurigs Besprechung der Palucca-Biografie von Susanne Beyer

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