Harry Kupfer denkt mitnichten ans Aufhören: gerade hat er einen neuen »Fidelio« in Berlin herausgebracht. Während der Probenphasen, kurz nach Kupfers 81. Geburtstag, haben unsere Autoren Boris Gruhl und Oleg Jampolski den Regisseur in Berlin besucht. Sie wollten wissen, was es mit dem Berliner »Parsifal« vor fast vierzig Jahren auf sich hatte, der diesen Sommer durch das kurzfristige Einspringen von Hartmut Haenchen in Bayreuth zu neuer Prominenz kam, weil er eine längere Aufführungs-„Eiszeit“ des Bühnenweihfestspiels an den Bühnen der DDR beendete. Wie nebenbei entspann sich so ein Gespräch über das Genre Oper, über die Suche nach menschlichen Zügen in ihren Figuren – und über unsere Sehnsucht, von der Kunst berührt zu werden.
Harry Kupfer, erlauben Sie uns einen Blick in Ihre Regiewerkstatt? Wie entstehen eigentlich Ihre Inszenierungen, auf welche Ideen gründen sie sich?
Die Grundlage des Theaters von heute ist die Straße – man darf die Straße nur nicht auf die Bühne bringen. Man muss herauskriegen: was berührt mich heute an einem Stück, an einer Oper, im Kontext meiner Alltagserfahrungen? Bei der Oper ging und geht es um Utopien, in der Szene wie im Klang. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes notwendig, sie können die Kraft haben, Not zu wenden. Solche Utopien haben etwas mit unserer Sehnsucht nach Berührung zu tun. Das Bedürfnis nach ihnen ist international. Ich war zwölf oder dreizehn Jahre alt und zum ersten Mal in der Staatsoper, »Madame Butterfly«, da habe ich geweint. Da wusste ich: da muss ich hin. Ich wusste nur nicht wie! Singen konnte ich nicht – also bin ich der Regie verfallen.
Mit Anfang vierzig inszenierten Sie 1977 den »Parsifal« in Berlin. Bis 1990 gingen 32 Aufführungen über die Bühne; an zwei Abenden stand auch der Dirigent Hartmut Haenchen am Pult. Fünfzehn Jahre lang war das Musikdrama im Osten nicht aufgeführt worden. Gab es dafür politische Gründe, wie sie Haenchen vor kurzem angeführt hat?
Ich habe jedenfalls damals keinen politischen Druck gespürt. Klar: der Intendant musste das Konzept vorher genau kennen, um es vor dem Ministerium verteidigen zu können. Viel brisanter aber war die Salome-Inszenierung zwei Jahre später an der Berliner Staatsoper: Ein blutiger Kopf auf der Bühne? Da kam ein Abgesandter vom Ministerium und äußerte seine Bedenken. Plötzlich wurden der Intendant und mit ihm alle Dramaturgen der Reihe nach krank. Zur Generalprobe stand ich völlig alleine da. Da kam wieder ein Mann vom Ministerium, offensichtlich jetzt ein vernünftiger; er gab grünes Licht. Am Premierentag waren alle wieder gesund. Diese Inszenierung wird noch immer an der Staatsoper gespielt!
Wie haben Sie sich mit dem »Parsifal« auseinandergesetzt?
Ich hatte zuvor 1961 »Der Fliegende Holländer« in Stralsund, 1962 »Lohengrin« in Karl-Marx-Stadt, 1966 »Tannhäuser« in Weimar und 1975 »Tristan und Isolde« in Dresden inszeniert. Mit »Parsifal« setzte ich mich schon Jahrzehnte auseinander, und damit habe ich bis heute auch nicht aufhören können, zuletzt habe ich ja das Werk vor zwei Jahren in Tokyo zur Aufführung gebracht. Mein Konzept der Oper hat sich unglaublich verändert und gewandelt.
Beim ersten Mal war ich von dem Stück überrumpelt. Zur Zeit meiner ersten Inszenierung, 1977 in Berlin, war das Verständnis des Stücks noch durch Wieland Wagner geprägt. Da bewegte sich alles in mystischem Dunkel, in einem pseudo-heiligem Nebel. Es war klar, dass der Ritterorden unbedingt das Positive, Klingsors Welt das Negative, das Böse, verkörperte. Ich habe mich damals aber gefragt: was ist eigentlich mit dem Ritterorden los? Der funktioniert ja gar nicht mehr! Keiner spricht an, dass der Orden steril geworden ist und nichts mehr tut. Meine Idee war also, diesen Gralsorden sehr kritisch zu betrachten. Vielleicht sah das für das Ministerium wie eine Religionskritik aus. Allerdings habe ich in dieser Inszenierung wesentliche Aspekte des Stückes komplett übersehen.
Welche? Und: wie hat sich Ihre Wahrnehmung des Stückes mit der Zeit verändert?
Der buddhistische Komplex des Stückes ist mir erst viel später aufgefallen. Wenn man das sieht, wird das Stück und vor allem Kundry verständlicher. Da stehen zwei große Weltanschauungen, zwei Religionsansichten gegeneinander. Die Figur des Klingsor ist mir auch erst später aufgegangen. Er ist ein Getriebener, wie Kundry. Ursprünglich wollte er ja etwas Gutes, daher tötete er ja seine Triebe ab. Da das die Gralsritter nicht akzeptieren, lässt er es drauf ankommen: Vor die Gralsburg baut er ein Bordell – und ein Ritter nach dem Anderen wandert dahin ab.
Wie muss man den Parsifal denn heute interpretieren? Was macht ihn aktuell?
Zumindest sollte niemand versuchen, diese Oper zu modernisieren. Man sollte vielmehr suchen: was war zur Zeit der Entstehungsgeschichte brisant an dem Stück? Diese Gesellschaft gibt es zwar nicht mehr, es hat sich alles verändert. Aber irgendwas ist doch geblieben! Was ist denn heute brisant? Das sind oftmals andere Dinge, als jene, die man damals zur Kenntnis genommen hat. Aber davon leben die großen Werke. Sie gehen zu jeder Gesellschaft eine neue Beziehung ein. Wenn man sie findet, muss man nichts konstruieren.
Wenn allerdings versucht wird, das Stück zu verbiegen, dann verkommt die Oper zur Filmmusik. Die Dramaturgie des »Parsifal« ist eigentlich in der Musik kodifiziert – wenn man das untersucht, dann kommt man dahinter. Und ich bin mit meiner Suche noch nicht am Ende. Es ist ein endloses Stück.
Seit Ihrer ersten Operninszenierung 1958, Dvoraks »Rusalka« in Halle an der Saale, haben Sie an die 90 Werke inszeniert. Auffällig ihr Einsatz für neue Musik, für Werke, die in der DDR unbekannt waren. Eins davon war 1975 Arnold Schönbergs »Moses und Aron« in Dresden. Auch hier wurde der religiöse Kontext argwöhnisch betrachtet.
Diese Geschichte war schon brisant: Ich habe zwei Jahre darum gekämpft, es überhaupt machen zu dürfen. Wir hatten ein Konzept, mit dem wir gearbeitet haben und ein anderes zur Vorlage bei den offiziellen Stellen. Als die das mitbekommen haben, war es schon zu spät. Meine Inszenierung in Dresden war ja nun auch nicht eine Feier des Religiösen, sondern eine intensive Auseinandersetzung mit der Situation eines Volkes, das nicht weiß, was es von denen halten soll, die die Richtung vorgeben. Das Stück durfte nicht im Anrecht gespielt werden; wir haben es dennoch 39 Mal aufgeführt. Entscheidend war für den Erfolg, dass die Leute es verstanden haben.
In Ihren Inszenierungen gibt es kein Schwarz oder Weiß. Selbst negativen Figuren bringen Sie Empathien entgegen.
Das ist schon bei Shakespeare so: Jede negative Figur hat einen Bruch in sich und einen Grund, warum sie so geworden ist. Man muss einfach den Text richtig lesen und die Musik richtig hören, dann erfährt man das. Bei Parsifal ist es die Suche des Menschen nach einer Weltanschauung, nach der menschlichen Bestimmung. Es geht um die Bekenntnisse zu Widersprüchen und gleichzeitig um den Kampf für Positives, für Menschlichkeit. Das ist ein ewiges Thema. Wer einen Kopf hat, der sucht! Und diese Suche ist in diesem Stück das Entscheidende.
Würden Sie sagen, dass es ein genereller Aspekt der Oper ist: Bild- und klanggewordene Utopien?
Absolut. Ich glaube, das ist der Schub beim Publikum: für eine Sekunde ist es besser, mit einer kleinen Utopie zu leben.
Das Gespräch führten Boris Gruhl und Oleg Jampolski.