Das so gerade mal noch für Dresden gerettete Bachfest stellte nicht nur eine ziemliche Bandbreite der Musikstile vor – vom Original über Jazz bis hin zur Uraufführung -, es enthüllte auch überraschende Erkenntnisse zu einem Schlüsselwerk Johann Sebastian Bachs.
Neue Erkenntnisse zum alten Bach? Ist nicht längst alles untersucht und enthüllt, insbesondere die krude Beziehung des Thomaskantors zur Adelsstadt Dresden? Man mochte ihn nicht, der sich so devot um eine Stelle als Hofcompositeur beworben hatte. Und man hätte um ein Haar jüngst noch das Bachfest vergeigt. Ein paar Enthusiasten um Kreuzkantor Roderich Kreile haben es gerettet – und konnten wie nebenbei mit einer kleinen Sensation aufwarten.
Denn neben einer Aufführung der h-Moll-Messe in der Kreuzkirche gab es auch ein Symposium an der Musikhochschule, das sich mit den Ursprüngen dieses Werkes befasste. Rund 150 Jahre lang ging die Musikwelt davon aus, dass Bach zusammen mit seinem Bewerbungsschreiben im Jahr 1733 quasi als Selbstempfehlung das Manuskript einer Missa Brevis in Dresden eingereicht habe. Aus diesen Noten – Kyrie und Gloria – ging später die h-Moll-Messe hervor. Die Deutung des Dresdner Musikers und Musikwissenschaftlers Moritz Fürstenau, beide Handschriften gehörten zusammen, hatte bis vor wenigen Tagen Bestand. Nun aber hat Michael Heinemann, Wissenschaftler der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber, die Manuskripte analysiert und kam zu einem völlig anderen Schluss.
Bachs Brief an den Kurfürsten ging zwar im Februar 1945 verloren. Man hatte aber weitsichtig eine Kopie angefertigt, die bis hin zu den verwendeten Wasserzeichen exakt war! Die aktuelle Analyse legt Heinemann zufolge den Schluss nahe, dass die Zusammenfügung beider Dokumente eine Konstruktion des 19. Jahrhunderts, eben von Fürstenau gewesen sei. Begründung: Das Notenmaterial der Missa Brevis weise vier verschiedene Handschriften auf. Neben Bachs eigener die von seiner Frau Anna Magdalena, dem Sohn Carl Philipp Emanuel sowie von einer weiteren Hand, die bislang niemandem zugeordnet werden konnte.
Als logische Schlussfolgerung führt Heinemann an, dass eine Bewerbung bei Hofe wohl kaum in einem derartigen Sammelsurium von Schriften angefertigt worden sein dürfte. Immerhin war ja von einem Widmungsexemplar an den Kurfürsten die Rede! Vor allem aber ergab eine Untersuchung der verwendeten Wasserzeichen – von Heinemann vorgenommen* -, dass die Noten erst 1736 geschrieben worden seien, drei Jahre nach Bachs Bewerbung. Somit wären sie nicht als Empfehlung, sondern als Dank für die tatsächlich erfolgte Ernennung überreicht worden – was freilich die Formfrage der vier Handschriften nicht restlos erklärt haben dürfte.
Michael Heinemann jedenfalls mutmaßt nach seiner Entdeckung, dass Bach seinerzeit als Compositeur für den evangelisch gebliebenen Teil des Hofes bestellt worden sei, also nur eine Art Unterkapellmeister für Dresden. Ein Amt, das bequem von Leipzig aus zu erfüllen war, wo Bach als Thomaskantor bekanntlich sehr gefordert war. Und dort hat er vermutlich aus der lutherischen Missa Brevis die katholische h-Moll-Messe verfasst, die somit nicht für den Dresdner Hof entstanden ist. Denkbar sei dafür ein Auftrag aus dem Böhmischen oder aus Wien. Es gibt auch in Zukunft noch viel zu entdecken bei Bach.
*Anm. der Redaktion: in einer früheren Version des Artikels war von einer Zusammenarbeit Heinemanns mit der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) die Rede. Die SLUB teilte der Redaktion indes mit, dass die Ergebnisse von Herrn Prof. Heinemann nicht mitgetragen würden. Weiter heißt es: „Wir korrigieren, dass das von Bach verwendete Papier mit entsprechendem Wasserzeichen, wie auch in der Fachliteratur belegt, bereits seit 1730 im Umlauf war. Auch der weitere Handschriftenbefund gibt keinerlei Anhaltspunkte für eine notwendige Umdatierung der Stimmen. Es ist somit weiter davon auszugehen, dass Bach das Material zu Kyrie und Gloria der Messe in h moll am 27.7. 1733 dem Kurfürsten August II überreichte.“