Kunst ist Kunst. Grenzen sind keine Kunst. Grenzen sind künstliche Gebilde, voll und ganz unkünstlerisch. Höchste Zeit also, dass die Kunst Grenzen endlich überwindet und einreißt. Aber hat sie das nicht immer schon versucht?
„Panta Rhei – Alles fließt“, so lautet das Motto der diesjährigen TONLAGEN, dem Dresdner Festival der zeitgenössischen Musik. Die Veranstalter um Dieter Jaenicke, Intendant des Europäischen Zentrums der Künste im Festspielhaus Hellerau, sie wollen zeigen, dass auch bei der Neuen Musik alles im Fluss ist, dass Grenzüberschreitungen eher die Regel sind als die Ausnahme. Ein Sinnbild für die ganze Gesellschaft?
Die Lust an Experiment und Improvisation, am Ausprobieren verschiedenster Mixturen der Musik aus fast aller Welt stand bei der Programmplanung offensichtlich ganz obenan. Vermutlich also doch eher ein Gegenbild zum Großteil der gegenwärtigen Germanenschaft. Bestenfalls aber ein sinnstiftendes Bild! Ab dem 19. Oktober kann man sich davon überzeugen, dann startet das zehntägige Festival. Es verbindet das, was hinlänglich als Neue Musik rubriziert worden ist, mit evolutionärem Mainstream im besten Sinne. Ein Querbeet-Angebot, das durchaus randständige Verlockungen bereithält.
Angefangen mit dem Eröffnungskonzert des MDR-Sinfonieorchesters unter seinen Chefdirigenten Kristjan Järvi, der neben Musik von und mit dem Gitarristen Bryce Dessner auch eine – für die Elektronik in der „Ernsten“ Musik – wegweisende Komposition von Steve Reich präsentiert, den 1987 entstanden „Electric Counterpoint“ für E-Gitarre und Tonband des soeben 80 Jahre alt gewordenen Amerikaners. Vorab laden die TONLAGEN zu einer Ausstellung mit brasilianischer Klangkunst sowie einem Konzert aus Installationen ein, die Jaenickes künstlerische Vorlieben offenbaren. Er selbst preist gerne das Geburtstagskonzert von raster-noton an, einem Ensemble um Carsten Nicolai und seine Mitstreiter, das längst weltweit für Furore sorgt – in seiner sächsischen Heimat aber nach wie vor eher ein Schattendasein führt. Dieses Konzert macht den künstlerischen Spagat überaus deutlich, denn es ist mit einer Aftershowparty im TBA (Bahnhof Neustadt) verbunden.
In Duo-Besetzung werden Irmela Boßler (Flöte) und Bernhard Kastner (Klavier) die Avantgarde der Neuen Musik aus dem 20. Jahrhundert mit Neutönern von heute verbinden. Werke von den Großmeistern Pierre Boulez und Isang Yun rahmen dann frisch entstandene Kammermusik von Ipke Starke, Karoline Schulz, Knut Müller, Thomas Stöß und Peter Helmut Lang. Ein Wiedersehen und -hören gibt es mit dem Pianisten und Komponisten Nik Bärtsch, der sein neues, beim Label ECM erschienenes Album präsentiert. Auch hierauf folgt eine Party, diesmal im Festivalzelt.
Auch dieser TONLAGEN-Jahrgang gibt sich kulinarisch. Nach früheren Weingelagen soll zum Konzert von ensemble courage diesmal ein Frühstück serviert werden. Die in Australien geborene Komponistin Liza Lim stellt sich dazu in einem Gesprächskonzert vor und wird zudem ihr von Hellerau koproduziertes Musiktheater „Tree of Codes“ aufführen. Es basiert auf Prosa von Bruno Schulz, die wiederum von Jonathan Safran Foer aufgegriffen und von Liza Lim zur Oper verarbeitet worden ist. Der Schweizer Regisseur Massimo Furlan hat das ungewöhnliche Stück inszeniert. Als Europäische Erstaufführung gibt es zudem in einem Projekt des Andromeda Mega Express Orchestra, das Musik aus Malawi mit Jazz, Afropop und Neuer Musik verbindet. Poetisch wird es mit dem brasilianischen Performer Marco Scarassatti und seinem „Novelo Elétrico“, was frei übersetzt ein „elektrisches Knäuel“ darstellen soll. Grenzgänze in fremde Sprachwelten vollzieht AuditivVokal aus Dresden, das unter Olaf Katzer mit dem Ensemble Iberoamericano das sprichwörtliche Chaos von Babylon thematisiert. Alles eine Frage der Identität?
Wenn in Hellerau von Grenzüberschreitungen die Rede ist, darf die Reihe Feature-Ring natürlich nicht fehlen. Das gastgebende Trio hat sich diesmal Marco Blaauw eingeladen, der auf einer Doppeltrichtertrompete bläst.
Den großen Bogen nach vorn und ganz weit zurück spannt das Duo Anne-Suse Enßle (Blockflöten) und Philipp Lambrecht (Schlagzeug) mit Musik aus nahezu einem Jahrtausend. Ans Laborieren macht sich hingegen der Künstler Toni Burner alias Holotrop in seinem „Morphonic Lab XV“ unter dem wortspielenden Titel „Heller Rauh“.
Die Vielfalt der diesjährigen TONLAGEN äußert sich darüber hinaus in einem Erzählcafé, in einem Konzert mit „Musik zum Liegen“ sowie in diversen Ausstellungen und Installationen. Wem das alles zu normal menschlich ist, dem wäre noch „Tierische Musik“ zu empfehlen. Kein Witz, Dieter Jaenicke hat auch ein Mäuseorchester (!) sowie ein Quintett von Fischen in petto.