Die Veranstalter um Dieter Jaenicke, dem Intendanten des Europäischen Zentrums der Künste im Festspielhaus Hellerau, wollen beweisen, dass auch in der Neuen Musik alles im Fluss ist. Grenzüberschreitungen sind hier eher die Regel als die Ausnahme. Lust am Experiment, am Ausprobieren verschiedenster Mixturen aus aller Welt, das stand bei der Programmplanung offensichtlich ganz oben. Am Mittwoch startete das zehntägige Festival beinahe schon traditionell mit einem Konzert des MDR Sinfonieorchesters unter Leitung seines Chefdirigenten Christian Järvi. Auch bei diesem Auftakt war nahezu alles im Fluss. Musik von Bryce Dessner und Steve Reich stand auf dem Programm. Von Letzterem, dem soeben 80 gewordenen Guru der Minimal Music, erklang eine Art Klassiker, der 1987 entstandene »Electric Counterpoint« für E-Gitarre und Tonband. Ausgeführt von einem einstigen Jünger, der längst sehr eigene Wege geht – eben Bryce Dessner.
Der Gitarrist und Komponist rahmte gemeinsam mit seinem Kollegen Aart Strootman den estnischen Dirigenten, der ungemein inspirierend seinen Rundfunk-Klangkörper mitzureißen verstand. Dessners Schaffen aus dem vergangenen Jahrzehnt wurde da angerissen, vom etwas suchenden »Raphael« (2008) bis hin zum klangvoll geschichteten »St. Carolyn by the Sea« (2011) und dem titelgebenden Reich-Reflex »Garcia Counterpoint« (2015). Trotz partiell nicht zu überhörender Beiläufigkeit in den Phrasenwiederholungen gab es begeisterten Beifall nicht nur des Publikums, sondern auch der erstmals zum Einsatz kommenden Jugend-Jury, die während der kommenden Tage viel zu tun und zu hören haben wird.
Aber vertraut man Dieter Jaenicke, so dient das Tonlagen-Festival ohnehin dem Aufsprengen musikalischer Rahmen und dem Vermengen von U und E. Helleraus Chef zielt auf das breite Publikum und betont wohl gerade deswegen die Vielfalt im diesjährigen Programm. „Ich würde überall hingehen,“ bewirbt er die Tonlagen, „weil ich das Programm wirklich sehr, sehr vielfältig finde. Wir wollen natürlich auch Leute erreichen, die an Clubmusik interessiert sind. Menschen also, die offen sind für Experimente, auch in der Musik.“ Kuratorisch betreut hat das Programm Barbara Damm, die vom Durchdringen der Musikstile voll und ganz überzeugt ist: „Schon seit einiger Zeit zeichnet sich ab, dass die Grenzen zwischen den Genres fließend geworden sind. So beziehen sich zum Beispiel die Musiker von Raster-Noton auf Karlheinz Stockhausen oder auf Morton Subbotnick.“ Raster-Noton wird dieses Jahr 20. Die Truppe um die beiden Chemnitzer Künstler Olaf Bender und Carsten Nicolai hat längst eine Weltkarriere angetreten. Wer bei deren Geburtstagsparty dabei sein will, kommt an Hellerau und den Tonlagen gar nicht vorbei. Barbara Damm zufolge ist dieses Konzert „eine sehr seltene Gelegenheit, die drei Gründer von Raster-Noton auf der Bühne zu erleben. Wir feiern hier in Dresden als einzige Stadt in den neuen Ländern den 20. Geburtstag der Band.“ Die Programmchefin hat auch noch ganz andere Empfehlungen für die diesjährigen Tonlagen: „Auf das Doppelprogramm Lichtmusik freue ich mich besonders. Es handelt sich dabei quasi um eine Sinfonie aus Licht mit einem unglaublichen Drive.“ Darüber hinaus birgt dieses Festival jede Menge Überraschungen, sei es ein Aufeinandertreffen von Feature-Ring mit dem Doppeltrichter-Trompeter Marko Blaauw, sei es das reizvolle Spektakel von und mit Nike Bärtsch’s Mobile.
Was sicherlich kaum jemand bei den Tonlagen erwartet, das ist eine klassische Oper. Doch mit »Tree of Codes« von Liza Lim hat auch diese Gattung die Hürden nach Hellgrau geschafft. In einer Koproduktion kommt das auf Bruno Schulzens »Zimtläden« basierende Werk – gespiegelt im gleichnamigen Roman von Jonathan Safran Foer – klangvoll auf die in diesen Tagen vielstrapazierten Bühne. Nicht zuletzt sollte man sich aber auch die zahlreichen Installationen im Festspielhaus anschauen. Die reichen in diesem Jahr von babylonischer Sprachvielfalt über diverse Klangkonstrukte bis hin zu einem Mäuseorchester!