Zum unwiderruflich letzten Mal zogen wir die Knie in den engen Sitzreihen an und schöpften in der Pause viel Sauerstoff in unsere Lungen: Leuben ist Geschichte. Die Staatsoperette zieht ins Zentrum, was ihr seit dem Anfang der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts immer wieder versprochen wurde. Intendant Wolfgang Schaller gab daher am letzten Abend auch einige Anekdoten zu diesem Fall aus den frühen Jahren der DDR zum Besten. Aber immerhin, der „Feenpalast“ in Dresden-Leuben war nach dem verheerenden Krieg intakt, nahm das Ensemble auf und wurde zu einem Haus ausschließlich für die leichten Gattungen der Operette, später des Musicals und der Spieloper. Wenn es einen Zusammenhang zwischen einem Haus, seinem genius loci, den dortigen Produktionen und dem Publikum gibt, dann galt das für Leuben. Dank der immer älter werdenden Besucher, die teilweise dem Genre noch im Residenz-, dem Central- und dem Albert-Theater huldigten, blieb Leuben ein Haus mit einem gewissen Plüsch-Charme, wie Operette eben nach dem II. Weltkrieg in Ost und West überlebte. Erst das aus Amerika importierte Musical blies frischen Wind in die Kulissen. Allerdings gehört dazu die Erkenntnis, dass die Operette der 20er und frühen 30er Jahre Revue, Tonfilm, das Lebensgefühl der modernen Zeiten aufnahm und oft zeitkritisch besang, dass aber die meist jüdischen Autoren 1933 vom nationalsozialistischen Deutschland vertrieben oder ermordet wurden.
Die Operette ist vermutlich die am stärksten von der NS-Kulturbarbarei beschädigte Gattung. Bereits im Frühjahr 1933 sind zahlreiche Entwicklungen für immer abgeschnitten worden. Daher war die Wiederaufnahme nach 1945 besonders belastet, wie auf einer wissenschaftlichen Konferenz, die die Staatsoperette 2005 veranstaltete, eindrucksvoll zu hören war. Erst Fritz Steiner etablierte in Leuben auch das internationale Musical, u.a. »My fair Lady«, 446 Mal mit Marita Böhme und Peter Herden zu hören und zu sehen.
Von allen Avantgardisten belächelt oder verspottet, hielt sich das Operetten-Genre und baut auf die beliebte und bekannte Musik, auf die unkomplizierte Handlung mit stets glücklichem und beglückendem Finale, auf Bühnenwitz und Bühnenpräsenz der Akteure, wie Schaller immer sagte, „hier singt das Ballett, und der Chor tanzt.“ Alle Interpreten sind in den temporeichen Inszenierungen körperlich sehr gefragt, und auch das Orchester spielte unter manchem guten Dirigenten nicht nur ein gesundes Mezzoforte, sondern folgte den Solisten aufs Wort unter Vermeidung von Sentimentalitäten, die bei schlechter Interpretation dem schlechten Ruf der Operette Nahrung geben. Dabei hat die Operette durchaus kritisches Potenzial.
Das ist das Dilemma, vor dem die Regisseure stehen: einerseits die eingängig-überbordenden Richard-Tauber-Melodien wie »Dein ist mein ganzes Herz« voller Sentiment, andererseits die Darstellung durchaus kritikwürdiger Verhältnisse der Menschen untereinander (s. MiD 20.06.2011), und dazu die Erwartungen eines Publikums, das seine Schlager und die Interpreten liebt. Hier galt es immer, die Balance zu finden, der Schlichtheit der Handlung und der Dialoge aufzuhelfen und ansprechendes musikalisches Theater anzubieten. Auf dem Leubener Nudelbrett war avantgardistisches Theater nie zu sehen. Dafür ist die Staatsoperette Dresden das einzige Operettentheater in diesem Land, das seit Jahren konsequent mehrere Spielplan-Schwerpunkte erarbeitete: Die Wiedergewinnung von Operetten von Johann Strauss, die seit Jahrzehnten aus dem Repertoire verschwunden sind, die Aufführungen von Operetten Offenbachs auf der Grundlage der Originale und die Wiederentdeckung von Operetten nach 1933 vertriebener jüdischer Autoren.
Entsprechend bot der Kehraus »Letzter Vorhang – Zukunft« Teile aus den klassischen Operetten und aus Musicals mit einigen der profilierten Solisten wie Ingeborg Schöpf, Bettina Weichert, Jeannette Oswald, Michael Heim, Andreas Sauerzapf und Christian Grygas nur noch auf der Vorbühne und mit bereits sehr reduzierter Beleuchtungstechnik. Der Vorhang zur Hauptbühne wurde gar nicht mehr geöffnet, weil sie schon leergeräumt ist. Es war ein würdiger Abschied ganz in der Tradition des Hauses, mit Ballett, Chor und Orchester unter der Leitung von Christian Garbosnik. Wolfgang Schallers wohlgesetzte Moderation erinnerte an Namen und Werktitel und war ein Dank an das alte Haus, mit dem wohl jeder seine ganz persönlichen Erinnerungen verbindet. Schön wäre es, wenn im alten Haus der „Volkskammer-Abgeordneten-Beifall“ (so empfinde ich das stets wiederholende rhythmische Klatschen der Besucher) zurückbliebe und einer individuellen Beifallsäußerung Raum gäbe.
Mit welchen Erwartungen geht es in das neue Haus?
Die neue Operette im Zentrum wird ihre bisherigen Spielplan-Schwerpunkte weiter ausbauen, denn es gibt immer noch Entdeckungen zu machen, und sie kann einen praktischen Beitrag leisten, zum Beispiel Werke des frühen 20. Jahrhunderts vor dem Vergessenwerden zu bewahren. Es geht um Spitzenleistungen des Genres. Welches andere Bühnen-Genre zeigt seinen Helden zu Beginn in russischer Kriegsgefangenschaft und danach im revolutionären Petrograd wie in Abrahams Operette »Viktoria und ihr Husar« von 1930? Welche Kunstgattung, vom Roman »Königliche Hoheit« von Thomas Mann einmal abgesehen, zeigt das reiche Amerika mit seinen Dollarmillionen so oft wie die Operette, etwa Leo Falls »Dollarprinzessin« oder Kálmáns »Die Herzogin von Chicago«, 1928? Das ist in Leuben erprobt worden und darf fortgesetzt werden. Vorhang auf!