Das Königliche Ballett von Antwerpen wurde 1969 gegründet und ertanzte sich mit seinem vornehmlich modernen Repertoire sehr schnell internationale Anerkennung. Mit Kathryn Bennets, die 2005 die Leitung übernahm, wuchs die Aufmerksamkeit noch. Aber mit einem Wechsel in der künstlerischen Leitung wurde es für das Königliche Ballett problematisch. Inzwischen dürften die Probleme behoben sein: seit Cherkaoui die Leitung übernommen hat, gibt es kein Königliches Ballett mehr. Diese größte Company Belgiens heißt jetzt Ballet Vlaanderen – Gent. Ein klassisch grundiertes Ensemble, international zusammengesetzt, wieder weit vorn in der Tanzwelt, immer wieder wird mit Gästen gearbeitet, Tänzerinnen und Tänzer, Choreografinnen Choreografen, ein weit gefächertes Repertoire, klassisch, mit den Höhepunkten der klassischen Moderne und immer wieder mit vollem Mut zum Risiko, Uraufführungen, Erstaufführungen, vom Chef, von angesagten Gästen wie demnächst Ohad Nahrin oder Akram Khan.
Und jetzt auch das volle Risiko, der mutige Blick nach Osten. Sowjetische Moderne aus Moskau, aus dem Jahre 1968, »Spartacus« von Aram Chatschaturian in der Choreografie von Juri Grigorovitsch. Ich hatte dieses Ballett bei seiner Deutschen Erstaufführung 1973 in der Berliner Staatsoper Unter den Linden gesehen. Ostberlin, klar. Das war zwar geografisch westlich von Moskau, aber als jetzt kurz vor Weihnachten das Bayerische Staatsballett diese Choreografie herausbrachte, war von der westlichen Erstaufführung die Rede. Für manche Leute war das aber auch der drohende Untergang der westlichen Ballettkultur, und es wurde zum Kampf geblasen gegen russische Ansprüche stalinistischer Art selbstverständlich von Putin gelenkt.
Für Antwerpen, da gibt es keinen Zweifel, gab es jetzt tatsächlich am letzten Wochenende die belgische Erstaufführung. Und man traute seinen Augen nicht: diese Moderne des Ostens, des tiefsten dazu, hat es in sich! Hinsehen, hinhören, weder artistische Sprungparaden noch hymnische Heldenverehrung staatstreuer Dienstbarkeit der Kunst machen die scheinbar doch ungebrochene Kraft dieses Werkes aus. Es gilt etliches an Ironie, Humor und gut dosiertem Hintersinn zu entdecken. Ja klar, Wahnsinnssprünge, irre Drehungen und Hebungen, umwerfend gut arrangierte Gruppenszenen, bestes Gespür für Raum und Dynamik, geschickter Wechsel zwischen den Gruppen der aufständischen Sklaven mit ihren Anführer Spartacus und den Legionären des Crassus. Differenzierte Frauengestalten, hier die Sklavin Phrygia, da die Kurtisane Aegina, beide nicht ohne Brüche, wie auch die sehr differenziert gestalteten Helden nicht. Die Company ist einfach großartig – dazu Starsolisten der besten Russischen Schule, der Londoner auch, aus Brasilien oder Estland. Und: das hatte ich nicht mehr parat, wie jazzig doch diese Musik ist! Wie sie sich auch ein bisschen über den Kulissenzauber à la Hollywood lustig macht und doch genau das vorgibt, was ein symphonisches Handlungsballett braucht…
Und dann ein Mann wie Karan Durgarayan am Pult der Brüsseler Philharmonie. Da geht die Post ab, und das macht den Tänzerinnen und Tänzern sichtlich Spaß, dem Publikum auch. Übrigens: was für ein Publikum! Junge Leute vor allem, total unkomplizierte Stimmung. Ballett für alle, mit Cola, Bier, Chips und Sekt, vorher und in den Pausen kann man Getränke kaufen und auch mit hinein in den Saal nehmen. Undenkbar in Dresden, sicher wegen des Denkmalschutzes, klar, was sonst.
Apropos Dresden und Ballett. Ein schöner Zufall. Ich komme in der zweiten Vorstellung mit dem Herrn neben mir ins Gespräch, ein Kollege, unschwer zu erkennen, wer schreibt schon im Dunklen ohne hinzusehen mit. Er kommt aus Paris, zeigt mir stolz einen Artikel über Grigorowitsch von sich im Programmheft und fragt, woher ich komme. Aus Dresden. Da geht bei ihm noch mal die Sonne auf, ein tolles Ballett gäbe es dort, letztes Jahr im Januar bei der Hommage für Mats Ek, als die Dresdner dabei waren, war er schon begeistert, und in diesem Jahr erst recht, Forsythe hätten sie getanzt, grandios, da ließen sich in diesem angeblichen Kultstück »Impressing the Czar« sogar die Durststrecken gut überstehen! Und hier, in Antwerpen, was sagt der Spezialist aus Paris zum Belgischen »Spartacus«? Grandios, was sonst. Das geht nicht ohne Perfektion, ohne beste Tanztechnik, und die ist da. Sie ist aber eben nicht alles, das sieht man hier auch, und das macht modernes Ballett aus, wir sind uns einig.
Ob ich zur nächsten Premiere auch wieder hier bin? Na ja, Lust hätte ich schon, der Abend heißt »East« und der Chef choreografiert selbst, das Ballett und den Chor der Oper zum Requiem von Gabriel Fauré, kombiniert mit Kompositionen des Belgiers Wim Henderickx, und dann tanzt auch Claudio Cangialosi, den es nach Antwerpen zog und den ich in Dresden ja doch vermisse, der aber gut in diese Company passt. Na mal sehen, falls ich fahre, dann melde ich mich auf jeden Fall bei »Musik in Dresden« mit meinen Eindrücken.