Busoni war zu seiner Zeit weltweit bekannt als konzertierender und lehrender Pianist. Er gab Anregungen in musikästhetischen Theorien, hegte neue Gedanken zur Behandlung des musikalischen Materials (rhythmische Prinzipien, Tonskalen, Nutzung von 1/6teil-Tönen). Und er komponierte. 1904 entstand sein Klavierkonzert und ab 1912 vier Opern. Die letzte, unvollendet hinterlassen, ist die um Doktor Faust. Dichtung und Musik erarbeitete er zwischen 1914 und 1922. Zwei Jahre vor seinem Tode legte er das Werk beiseite. Da er selbst seine Komposition nicht vollendete, gab es Versuche, das Werk abzuschließen. Sein Freund und Schüler Philipp Jarnach legte eine Fassung vor, die 1925 in Dresdens Semperoper unter Fritz Busch ihre Uraufführung erlebte. Eine neue Fassung unter Verwendung von hinterlassenen Skizzen durch den englischen Dirigenten Antony Beaumont kam 1985 in Bologna heraus. Diese neue Variante, die alle Texte des Librettos vertont zeigt, lag auch der Dresdner Erstaufführung zugrunde. Die Inszenierung, 90 Jahre nach der Uraufführung am Hause, ist der dritte Teil einer von Prof. Uecker für die Semperoper angeregten Faust-Trilogie. Inzwischen gab es bereits Gounods Opernvariante des Goetheschen Faust und die von Berlioz in »La Damnation du Faust«. Und nun also »Doktor Faust« von Busoni, eine „Dichtung für Musik in zwei Vorspielen und drei Hauptbildern“ der Beaumontbearbeitung.
Die Inszenierung übernahm der englische Regisseur Keith Warner, der bereits die anderen Faust-Opern in Dresden erfolgreich herausbrachte. Auch hier entstand eine szenisch faszinierende Aufführung, die mit der Staatskapelle unter Tomas Netopil den musikalischen Untergrund prägte. Der tschechische Dirigent hat bereits mit »Rusalka« und »Das schlaue Füchslein« sowie »Salome« nachhaltig beeindruckt. Er hatte die Aufführung fest in der Hand, setzte mit der Ausarbeitung von Busonis „linearer Polyphonie“ beeindruckende Akzente und führte das weit gefächerte Ensemble auf der Bühne. Und dort entwickelte sich ein bildhaft faszinierendes Geschehen.
In einem variantenreich gesetzten Säulensaal entfaltete sich das Spiel. Nicht mehr wollte Busoni, der keine Verdi- oder Wagnernachfolge erstrebte, deshalb sich auch nicht an Goethe orientierte, sondern am Puppenspiel der Faustgeschichte, mehr Commedia dell’arte denn Musikdrama. So reihten sich die Szenen des faustischen Lebens locker aneinander. Faust sucht zwar nach Erkenntnis über Leben und Welt, ist hier aber nicht der versonnene Denker, sondern ein lebenslustig zupackender Wanderer. Deshalb ist Mephisto mehr Moderator und Führer, der alles möglich macht. Und der Regisseur entfaltet mit seinem Bühnenbildner Tilo Steffens und den Lichteffekten und Video-Einspielungen von John Bishop und Manuel Kolip eine fantastische Spielatmosphäre, die sich auch mit dem Ensemble in einer dezent treffenden Kostümierung von Julia Müer wiederfindet. Keith Warner führt auf lebendige Weise Regie, die immer wieder (vor allem in den packenden Chorszenen, besonders der Männer) einprägsam zu gestalten versteht. So entsteht eine Show, die Faust als niedergedrückten Zweifler an der Wissenschaft zeigt, als magischen Beschwörer ohne Erfolg bis zum Erscheinen von Mephisto, als einen Faust, der sich als rücksichtsloser Verführer offenbart. Da bleibt mancher am Wege zurück; ob das Gretchen ist, für die Bruder Valentin sterben muss, oder die Herzogin von Parma, die Faust bei der fürstlichen Hochzeit entführt und dann verlässt. Und schließlich er selbst, der am Ende immer mehr an Autorität verliert und an der Müllkiste endet, nachdem sein einstiger Famulus Wagner seine Position an der Universität in Wittenberg eingenommen hat. Mephisto als Nachtwächter liest ihn auf der Straße auf: „Sollte dieser Mann verunglückt sein?“ Auch er hat seinen Einfluss verloren.
Busoni hat Faust in seinem letzten Monolog tiefe Gedanken über Zeit und Welt beigegeben: Faust und Mephisto erkennt er als zwei Seelen im Menschen. Diese Szene ist theatralisch schwierig umzusetzen. Keith Warner versuchte choreographisch zu kommentieren, sechs Tänzer sind gleichsam Zeitgenossen von heute, anfangs im Bühnenvordergrund lesend, später in die Geschichte eingreifend und richtend.
Großartig die sängerischen Leistungen des Ensembles, allen voran der Amerikaner Lester Lynch als Faust und der Engländer Mark Le Brocq als äußerst agiler Mephisto, der das Geschehen wie Loge in Wagners »Ring« vorantreibt. Die weibliche Hauptpartie als Herzogin von Parma wird von Manuela Uhl von der Deutschen Oper Berlin eindringlich, mit schöner Stimme getragen. Die vielen Nebenrollen waren bestens besetzt, allen voran Sebastian Wartig mit sonorem Bass als Valentin.
Begeisterter, langanhaltender Beifall unterstrich die unmittelbare Wirkung dieser ungewöhnlichen Musiktheateraufführung eines Werkes, von dem Kurt Weill nach der Uraufführung von 1925 sagte: „dass diese Oper in jeder Beziehung als Grundlage einer weiteren Entwicklung des musikalischen Bühnenwerkes“ gelten könnte. Die neue Inszenierung des »Doktor Faust« strahlt etwas aus, das diese Richtung eines „epischen Musiktheaters“ aufzeigt und inszenatorisch umsetzt.