Ein thematisch konzipiertes Festival gehört in jeder Saison zum Format der Opéra de Lyon. In dieser Saison, so Intendant Serge Dorny, will man für die Zuschauer des Jahres 2017 drei Aufführungen wiederbeleben, die bezeichnend für die letzten Jahrzehnte waren. Drei Aufführungen, deren Schöpfer nicht mehr unter uns weilen und doch lebendig bleiben: Klaus Michael Grübers Inszenierung »L’incoronazione di Poppea« aus dem Jahre 2000 für das Festival von Aix-en-Provence, die Dresdner »Elektra« und »Tristan und Isolde«, 1993 von Heiner Müller für die Festspiele in Bayreuth inszeniert. Drei legendäre Aufführungen, drei legendäre Künstlerpersönlichkeiten des deutschen Theaters des späten 20. Jahrhunderts, die in die Fußstapfen von Brecht und Felsenstein traten und doch neue Wege gingen – vor allem Grüber in der Berliner Schaubühne oder Berghaus und Müller beim Berliner Ensemble, Ruth Berghaus dann immer stärker als prägende Regisseurin des Musiktheaters in beiden Teilen Deutschlands.
So war ich gespannt, wie diese Meilensteine der Theater- und Operngeschichte heute, in aktuellen Kontexten, ihre Gültigkeit behaupten. Von besonderem Interesse war für mich natürlich die Dresdner »Elektra« von 1986, die noch bis 2009 im Repertoire der Semperoper aufgeführt wurde. Es war verblüffend, wie aktuell ich diese Aufführung auch nach 30 Jahren, jetzt unter anderen Bedingungen und in neuen Zeitbezügen, empfand. Zudem wirkt diese von Katharina Lang einstudierte besondere Szenerie mit dem großen Strauss-Orchester auf der Bühne, aus dem dann dieser Sprungturm von Hans Dieter Schaal erwächst, sich in der Höhe nach beiden Seiten weitet wie eine Aussichtsplattform, eine Kommandobrücke, im gänzlich schwarzen Theatersaal der Lyoner Oper noch einmal ganz besonders. Nichts lenkt hier ab. Die Musik wird sichtbar: aus ihr erhebt sich die Szene, erwächst der Gesang und diese wartenden Menschen, diese einsamen, in Schuld und Mord verstrickten, hoffnungslosen Kreaturen kommen einem erneut beängstigend nahe. So wie das Warten auf Veränderungen 1986 seinen Kontext hatte, nach den euphorischen Ereignissen des Herbstes 1989, im neuen Deutschland, Menschen schon wieder gelähmt schienen, so stellen sich Assoziationen lähmender Machtlosigkeit angesichts aktueller Blutspuren des Unglücks erneut ein.
Die Kraft der Inszenierung liegt in ihrer Musik
Am Pult in Lyon, wie damals in Dresden, Hartmut Haenchen. Der Dirigent ist ganz sicher kein Anwalt konservierender Erinnerungen. Die Aktualisierung der Musik gelingt ihm grandios. Da ist diese packende musikalische Dynamik des unaufhaltsamen Unglücks in der Dramaturgie der antiken Tragödie. Da sind aber auch jene Momente der Zwischentöne, des Innehaltens, wenn unter seiner Leitung die Musik diese einsamen Menschen umhüllt wie ein schützender Mantel. Es kommt ja darauf an, sie hörbar zu machen in der Korrespondenz zu allen Klangkaskaden dieser Partitur für über 100 Musiker, diese das Werk durchziehenden Momente lyrischer Sehnsucht. Das sind keine Monster, das sind Menschen. Und die tödlichen Konflikte des Dramas sind so alt und so neu wie die Menschheit.
Auch gesanglich kann diese Aufführung weitgehend überzeugen. Elena Pankratova in der Titelpartie hatte in der aktuellen Dresdner Inszenierung ihr überraschendes Rollendebüt gegeben. Sie war auch die Elektra der konzertanten rumänischen Erstaufführung 2015 beim Festival Enescu in Bukarest. Eine erstaunliche Entwicklung. Lioba Braun als Klytämnestra beeindruckt in Lyon vor allem gesanglich. Katrin Kapplusch als Chrysothemis, deren Karriere einst in Zwickau begann, ist dazu auch von besonderer darstellerischer Präsenz. Nicht zu vergessen Christof Fischesser als Orest! Stark berührt die Erkennungsszene mit Elektra, beklemmend die Interpretation der Regisseurin Ruth Berghaus, dass dieser Mann unter den Erwartungen, Erlöser, Rächer, Bruder zu sein, zusammenbrechen muss, dass sein Arm bandagiert werden muss, um die Waffe zu führen.
Das Festival wurde mit Klaus Michael Grübers Inszenierung »L’incoronazione di Poppea« von Claudio Monteverdi eröffnet. Zu Ende ging es mit Wagners »Tristan und Isolde«, inszeniert von Heiner Müller in den magischen Räumen von Erich Wonder. Mit dieser Auswahl wollte Serge Dorny angesichts aktueller Gefahren der Beliebigkeit im Opernbetrieb auf die Fundamente des innovativen Musiktheaters verweisen. Es gehe ihm, so im Gespräch, hier auch um die Personen. Mit Ruth Berghaus beginnt für ihn das Regietheater. Heiner Müller verbindet die Dichtung, die Dramaturgie, das besondere Bewusstsein für die deutsche Geschichte, mit seinem wie bei Berghaus von Brecht beeinflussten Theater. Klaus Michael Grüber steht nicht zuletzt für die neuen Wege des kollektiven Theaters, gerade damals an der Schaubühne in Berlin West.
In diesem Zusammenhang kommen wir doch noch einmal auf Dornys Pläne zu sprechen, die er für Dresden hatte, sorgsam überlegt und genau konzipiert im Hinblick auf Traditionen und Geschichte dieser Stadt in aktuellen Kontexten. Auch hier hatte er ein jährliches Festival geplant. Und diese Pläne machen noch einmal deutlich, was sich Dresden da verscherzt hat. Ein jährliches Festival mit besonderer Beachtung des Repertoires sollte es sein, thematisch grundiert jeweils mit einer dieser wichtigen ‚Erinnerungen‘ und einem neuen Werk. Zu den für Dresden geplanten Erinnerungsinszenierungen gehörten auch Müllers Sicht auf »Tristan und Isolde«, Wieland Wagners wegweisende Inszenierung des »Parsifal« von 1951 aus Bayreuth. »Boris Godunov« in der Inszenierung von Andrej Tarkowskij sollte in Dresden zu sehen sein und Luchino Viscontis legendäre »La Traviata«, und auf jeden Fall eine der großen Inszenierungen von Walter Felsenstein als Begründer des realistischen Musiktheaters. Aber es ist eben anders gekommen…
Serge Dorny, erfolgreich als Intendant der Opéra de Lyon, sollte an der Semperoper die Nachfolge für die 2012 verstorbene Intendantin Ulrike Hessler antreten. Seine Pläne waren vielversprechend und berechtigten zu der Hoffnung, durch kluge Konzeptionen, zukunftsweisende Verpflichtungen von Regisseuren und Dirigenten das Dresdner Operngeschehen stärker in die internationale Wahrnehmung zu führen. Es kam anders. Der bereits geschlossene Vertrag wurde wieder aufgekündigt, Kosten spielten keine Rolle. Dorny ging wieder nach Lyon. Hier setzt er seinen Erfolgskurs fort. Dazu gehört das jährliche, thematisch ausgerichtete Festival. Im nächsten Jahr ist es Giuseppe Verdi gewidmet und fügt sich mit »Macbeth«, »Attila«, »Don Carlos« in der fünfaktigen, französischen Fassung, in das thematische Konzept der Opernsaison unter dem Motto »Kriege und Könige«.
Die Saison 2017/2018 wird in Lyon mit einer szenischen Aufführung von Brittens »War Requiem« eröffnet. Als Regisseur konnte Yoshi Oida gewonnen werden, der mit den Techniken des japanischen Nō Theaters arbeitet und seine Erfahrungen mit dem großen Erneuerer des Theaters, Peter Brook, einbringt. Erstmals inszeniert Stefan Herheim, mit dem ja eigentlich auch mal eine starke Zusammenarbeit in Dresden geplant war, eine Oper von Rossini: »La Cenerentola« – ganz sicher nicht als schlichtes Märchen vom braven Mädchen. Alexander von Zemlinskys »Der Kreidekreis« wird erstmals überhaupt in Frankreich aufgeführt. David Marton, von dem der Kritiker Dirk Pilz nach dessen Dresdner Sicht auf Wagners »Rheingold« am Staatsschauspiel schrieb, er sei, „einer der Spitzenvertreter im schmalen Segment eines Musikspieltheaters, das nicht Oper verschauspielert, sondern das Schauspiel in experimentelles Operngelände entführt. Er kann etwas, was wenige können: unaufdringlich Dringliches schaffen, ein sinnlich wie denkerisch bezwingendes Gesamttheater“, wird Mozarts »Don Giovanni« inszenieren. Und mit »GerMANIA« von Alexander Rasakatkov ist eine Uraufführung angekündigt, in deutscher und russischer Sprache gesungen entnimmt dieses Auftragswerk ihre Themen zwei Stücken von Heiner Müller, »Germania Tod in Berlin« und »Germania 3 Gespenster am toten Mann«. Es geht um die „Utopie einer auf dem Neuen Menschen beruhenden Gesellschaft“, angekündigt sind „Dramatische Momentaufnahmen und schwarzer Humor“.