In einer neuen Produktion der Dresden Frankfurt Dance Company mit dem Titel »Extinction Of A Minor Species« stellt Jacopo Godani, als künstlerischer Direktor und Choreograf zugleich verantwortlich für den Raum, die Kostüme und das Licht, die Frage nach den Grenzen der Evolution. Wenn er dabei die Körper der Tänzerinnen und Tänzer bis in die Extreme der Möglichkeiten ihrer Entwicklungen der Bewegungen führt, wird dies zu einem Gleichnis gegenwärtiger Bedrohung unserer Existenz.
Bevor dieser Abend in drei Teilen, die ineinander übergehen, begann gab es es eine beeindruckende Installation mit Studentinnen und Studenten der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main. Wenn dieser Abend ab 24. Mai 2017 in Dresden im Festspielhaus Helleau seine Premiere feiert, werden dies Studierende der Palucca Hochschule für Tanz aus Dresden sein. Jetzt waren es drei große schwarze Kästen im Foyer des Bockenheimer Depots in Frankfurt. Ich sah jeweils, zunächst verschwommen, dann immer klarer, menschliche Wesen, die sich in beinahe völlig schutzloser Nacktheit ihrer Körper durch den Zeittunnel der Evolution auf mich zu bewegen. Schon dies eine höchst persönliche Erfahrung! Auf der Bühne sind dann Tänzerinnen und Tänzer zunächst wie leblos zu sehen. Verhüllt, bedeckt sind sie, als lägen sie dort als unvermeidbare Opfer eines Weges, auf dem wir bisher unterwegs waren, um nun wenigstens im geschützten Raum des Theaters für Momente innezuhalten. Bald schon kommen neue Bilder auf uns zu, die der sich bewegenden Tänzerinnen und Tänzer zu aus originalem Klavierklang und zugespielten Sounds sich mischenden Klangvarianten. Aus der freien Form der Improvisation geht der Pianist Ruslan Brezbrozh über in die kompositorische Vorgabe mit dem assoziierenden Titel »Basso ostinato« von Rodion Schtschedrin mit den weiterführenden Klangvariationen von 48nord, Ulrich Müller und Siegfried Rösert. 48nord wird dann weitere Klangreisen unternehmen. Diese führen bis in fernöstliche Landschaften und öffnen immer wieder die Weite der Assoziation, nach dem ersten, »A Minor Extinction« genannten Teil im fließenden Übergang zum zweiten, »Premonitions of a Larger Plan« hin zum Schluss, »Postgenoma«.
Körper zu wunderbaren Linien geformt
Wie die Klänge verändern sich Godanis Raumchoreografien. Insbesondere wandelt sich eine seitlich vom Zuschauer verlaufende Wand, die mal verbirgt, mal enthüllt. Nichts ist wie es scheint: so wie auf jede Bewegung eine andere folgt, so öffnen sich bald die Tore erinnernder Fantasien, wenn Wesen wie Kentauren, übergroße Faune oder Menschen mit Tiermasken wie Fabelwesen sich zu den Tänzerinnen und Tänzern fügen, die jetzt auch in unterschiedlichen Konstellationen zueinander finden, um sich bald zu trennen und neu zu finden – oder in Einsamkeit wie verlöschend hinter dem Schutz einer schwarzen, in den Raum gestellten Wand verschwinden. Selten konnte Jacopo Godani die ihm eigenen und unverkennbaren Mittel der Bewegungssprache so sensibel zur Geltung bringen. Als wären sie von großer Zuneigung zu den Tänzerinnen und Tänzern geprägt, erwachsen die oftmals in die Höhe weisenden Gesten der Arme aus weichen und schmiegsamen Bewegungen.
Und dann gibt es berührende Bildkompositionen. Etwa, wenn ein Wesen wie aus künftigen Zeiten in regelrechter Science-Fiction-Manier am Rand der Bühne einen getöteten Kentauren nach der Art einer Pieta im Arm hält. Oder wenn die zerbrechliche Zartheit jener Figuren fernöstlicher Religionen zum Bild wird, wenn ein feierlicher Zug die Szene durchschreitet, als wären die uralten Darstellungen ägyptischer Wandmalereien für einen Augenblick wieder zum Leben erwacht. So kommen im Tanz das Unwiederbringliche und das Gegenwärtige zusammen, Bilder einer Recherche vor dem Rätsel der Evolution, Fluch und Segen im Widerstreit, Kampf und Versöhnung.
Für diesen Abend in Zusammenarbeit der vor 200 Jahren auf Anregung Goethes in Frankfurt begründeten Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, mit besonderen Verdiensten um die Evolutionsforschung, nimmt Jacopo Godani auch so etwas wie eine Erforschung der Möglichkeiten des Tanzes vor, verbindet Techniken des Balletts mit denen zeitgemäßer Ausdrucksmittel des modernen Tanzes, expressiv, aber vor allem immer wieder sensibel und sogar meditativ. Die berührende, auch verstörende Choreographie mündet in die Frage, ob dieser Tanz das Ende der Evolution vorwegnimmt, oder ob durch die Kraft der sich immer wieder bewegenden Körper Hoffnungsschimmer aufblitzen. Die neun Tänzerinnen und acht Tänzer fesseln die Zuschauer durch die Kraft eben jener Möglichkeit des Konjunktivs.
Zu besonderen Höhepunkten werden zwei Duette, einmal David Leonidas Thiel und Julian Nicosia in einer kämpferischen Auseinandersetzung und dann, in großer Form, als meditativ grundierter Ausklang, Anne Jung und Gustavo Gomes in einem zutiefst berührenden Pas de deux. Keine Jetés, keine Pirouetten, aber dieser Tanz miteinander, die Trennungen, die Versuche, in den solistischen Variationen die Kraft zu schöpfen, den Partner oder die Partnerin wieder zu finden, neu zu sehen, zu halten, loszulassen, um dann doch, getrennt und wie zu Beginn schon in schützender Verhüllung, genau dort als Bild einer mahnenden Schwelle zu liegen, wo eben jene Grenze verläuft zwischen dem »Memento mori« der Kunst und jenem der freien Assoziationen bei den Zuschauern. Und dann sind die auch wieder da, diese Schemen aus der Installation vom Beginn, jetzt hinter der mehrfach gewandelten Wand auf der Bühne, als wäre eben doch jedes Ende einer Entwicklung auch der Beginn einer neuen.