Er wolle in jeder Saison eine Ikone der Choreografen des 20. Jahrhunderts in Dresden vorstellen – so kündigte es Aaron S. Watkin, der Dresdner Ballettdirektor, einst bei einer Pressekonferenz an. In der letzten Saison gab es mit »Manon« erstmals eine Choreografie von Kenneth McMillan in Dresden. Und in der kommenden wird hier erstmals eine Kreation von Frederic Ashton zu erleben sein. Mit dem neuen Ballettabend werden jetzt gleich drei Ikonen der Choreografie des letzten Jahrhunderts vorgestellt: George Balanchine, geboren 1904 in St. Petersburg, gestorben 1983 in New York, Gründer des American Ballet, gilt als Begründer des neoklassischen Stils. Er überführte die klassischen Traditionen des Balletts in die Moderne. Seine Meisterwerke bedürfen keiner Handlung, er hat einmal gesagt, dass für ihn durch Tanz die Musik sichtbar wird. Jiří Kylián, in Prag geboren und ausgebildet, der im März seinen 70. Geburtstag feierte, wurde von John Cranko als Tänzer an das Stuttgarter Ballett geholt, wo bald seine choreografische Begabung entdeckt und gefördert wurde. Von 1975 bis 1999 war er Leiter des Nederlands Dans Theater, begründete seinen speziellen modernen Stil auf klassischer Grundlage, Vergessen und Erinnern, Rückschau und Vorangehen sind wesentliche Themen seiner Arbeiten. Leidenschaften, Melancholie und Emotionen bestimmen seinen Stil der Moderne. Zwei Jahre jünger als Kylián ist William Forsythe aus New York, dessen choreografische Karriere ebenfalls in Stuttgart begann, und der dann als Direktor des Frankfurter Balletts und der späteren Forsythe Company mit Residenzen in Dresden und Frankfurt mit seinen inzwischen weltweit aufgeführten Kreationen für die konsequente Erneuerung des Balletts im 21. Jahrhundert steht.
Die Dramaturgie dieses Abends ist verblüffend. Die Beziehungen der Werke zueinander schaffen Spannung, Bewunderung und am Ende große Begeisterung, die vor allem aus einer tiefen Berührung entsteht. Zunächst Balanchines Choreografie »Sinfonie in C« von 1947, zu Bizets beschwingtem, ganz der aufblühenden Melodik verpflichtetem Frühwerk von 1855, als ein choreografisches Meisterwerk perfekter Symmetrie und Musikalität im Wechsel der Solistenpaare mit der immer größer werdenden Gruppe der Tänzerinnen. Kyliáns Kreation »Vergessenes Land« von 1981 zur Musik der »Sinfonia da Requiem« von Benjamin Britten für sechs Paare bezieht sich zudem auf das Bild »Tanz des Lebens« von Edvard Munch. Hier verbinden sich auf ganz andere Weise Klang und Bewegungen der Menschen auf ihren von den existenziellen Fragen nach dem Woher und Wohin bestimmten Wegen, die sie zueinander führen, immer wieder auch in die Einsamkeit und den Versuchen der Überwindung. Und dann wird am Ende William Forsythes »Quintett« von 1993 zum wie in einer Endlosschleife sich wiederholenden Gesang von Gavin Bryars für zwei Tänzerinnen und drei Tänzer zum emotional zutiefst berührenden Ausklang dieses Abends, der im eigentlichen Sinne keine Geschichten erzählt aber den Zuschauer mit einer Vielzahl von Assoziationen, Emotionen, Rätseln und nicht zuletzt auch tief empfindbaren, konstruktiven Verunsicherungen entlässt.
Alle drei Choreografien sind zu verschiedenen Zeiten entstanden. Sie sind ja einst für ganz andere Tänzerinnen und Tänzer kreiert worden, was natürlich zu der Frage führt: wie gelingt es, den Eindruck einer puren Rekonstruktion zu vermeiden? Denn die Übernahme des tänzerischen Materials ist die eine Sache; dieses dann aber lebendig zu machen, authentisch, die andere, eben die entscheidende. Da ist es bei Balanchine so, dass die Beherrschung der enormen technischen Ansprüche zwar oberste Voraussetzung ist. Die individuelle Kraft der Tänzerinnen und Tänzer aber muss dazu kommen, die eigene Musikalität muss sich erschließen und eben zu jener mitreißenden Dynamik führen, die dieses Werk ausmacht. Das gelingt, sowohl bei den Solistenpaaren Svetlana Gileva und István Simon, Sanguen Lee und Dmitry Semionov, Kanako Fujimoto und Denis Veginy, als auch beim Corps de Ballet, wenn dann im großen Finale des musikalisch jubelnden »Allegro Vivace« mit über 50 Tänzerinnen auch Studentinnen der Dresdner Hochschule für Tanz hinzu kommen.
Noch stärker ist natürlich die Individualität bei einem Werk wie »Vergessenes Land« unabdingbar. Da erfährt dieser Abend auch noch eine enorme Steigerung. Svetlana Gileva und Gareth Haw als schwarzes, Kanako Fujimoto und Joseph Gray als graues, Alice Mariani und Jón Vallejo als rotes, Jenny Laudadio und Skyler Maxey-Wert als rosa, Sanguen Lee und Ouzounis als weißes, sowie Chiara Scarrone und Václav Lamparter als vergessenes Paar sind eben jene wunderbaren Paare auf dem ihnen zugewiesenen Land vor der bedrohlichen Projektion einer Meeresbrandung auf der Bühne von John F. Macfarlane. Sie lassen kraft ihrer persönlichen tänzerischen Körpersprache genau jene Bilder unabdingbarer Eindringlichkeit dieser Choreografie für den Zuschauer empfindbar werden. Die Frage nach der authentischen Interpretation stellt sich natürlich bei einem Werk wie »Quintett« von William Forsythe noch einmal in besonderer Weise. Forsythe widmete das Stück seiner Frau, die zur Zeit der Entstehung im Sterben lag. Er wählte dazu den sich wiederholenden Gesang von Gavin Bryars, »Jesus‘ Bloos never failed e yet«, geprägt durch die Motive meditativer Religiosität eines gläubigen Gospelgesanges, den Bryars verwendet.
Es lässt sich ja nicht wiederholen, was damals, als das Werk 1993 entstand, der Anlass war. Forsythe sagte dazu, er empfinde diese sehr persönliche Hommage an den Tanz und das Leben „in erster Linie als eine Art Liebesbrief, eine Darstellung von all dem was ihr und uns gemeinsam am Herzen lag“. Aber, wenn man wie jetzt in Dresden, mit den Tänzerinnen Courtney Richardson und Duosi Zhu, den Tänzern Christian Bauch, Francesco Pio Ricci und Michael Tucker, so starke Persönlichkeiten hat, dann kann man sich der emotionalen Kraft dieser Bilder des bewegten Wiederstandes nicht entziehen. Es sind keine Geschichten, aber es sind eben jene Bilder der Assoziationen jener Menschen, die zueinander kommen, sich ganz nahe sind, um dann wieder in der Einsamkeit zu verlöschen, die durch eine Öffnung im Bühnenboden in die Tiefe fallen können, darin aber auch Zuflucht suchen, wieder aufsteigen, einander heraushelfen oder in einer sich wiederholenden Bildsequenz am Ende mit aller Kraft verhindern wollen, dass eine Tänzerin in diese bodenlose Tiefe fällt.
Und so erschließt sich am Ende dieser Ballettabend mit seiner dynamischen Dramaturgie, so erschließen sich die Beziehungen dieser Choreografien, mit dem Bogen von der heiteren Beschwingtheit zur existenziellen Tiefe, was einander nicht ausschließt. So zeigt sich eine starke Kompanie und das Publikum ist am Ende so berührt wie begeistert.
Nächste Aufführungen: 23. und 27. Mai; 2., 6., 7. Juni