Da Ende des Jahres ein neues Album erscheinen soll, hat Max Raabe bei seiner diesjährigen Tournee bewusst auf neue Stücke verzichtet und stattdessen zum ersten Mal seine Fan-Gemeinde per Internet-Voting über deren Lieblingsnummern aus dem inzwischen über 600 (!) Titel umfassenden Repertoire abstimmen lassen. Ein bisschen habe es ihn schon verwundert, dass ausgerechnet »La Mer« von Charles Trenet hierbei Platz eins belegt hat – sei es doch ein französischer Chanson von 1943 und kein deutsches Lied und erst recht kein Schlager aus den späten zwanziger- und frühen dreißiger Jahren. Wie viel Veränderung und Weiterentwicklung ist möglich oder vielleicht auch nötig, um den Erfolg der inzwischen schon 30 Jahre alte Marke »Max Raabe & Palast Orchester« zu sichern und zu erhalten? Ist es die Abwechslung, die den Erfolg garantiert, oder hat das Publikum vor allem ein Bedürfnis nach Kontinuität und Wiedererkennbarkeit, nach Hits, deren Texte es mitsingen kann? Regelmäßig füllt Max Raabe die Berliner Waldbühne ebenso wie die großen Konzertsäle der Welt. Entsprechend routiniert ist die Show: da weiß jeder genau, was er tut, alles ist bis ins Detail durchkomponiert und sitzt so perfekt wie Frack und Frisur. So stilbewusst wie sein Outfit, so lässig, ja geradezu traumwandlerisch ist der Umgang mit seiner Stimme: mit beachtlicher Intonationssicherheit geht Raabes Bariton gleitend über in eine durchfistelte „Voix mixte“ – seine für ihn so typische Mischung aus Kopf- und Bruststimme und zaubert diesen nur ihm eigenen Klang und dieses besondere Flair in den Saal. Diese Stimme ist wohl vor allem der Grund für den dauerhaften Erfolg und dafür, dass auch das jüngste Dresdner Konzert am Dienstag wieder ausverkauft war.
Bewusst musikalisch aus der Zeit gefallen ist er irgendwie zeitlos geblieben – und sich treu in Stil und Auftritt. Und doch ist der Grat schmal zwischen lässiger Eleganz und gefühlsarmer Show-Routine, zwischen Schlafzimmerblick und Esprit, zwischen hochgezogener Augenbraue und Masche. Deshalb wird der Abend besonders stark in den Momenten, in denen es Raabe gelingt, das Gefühl des sich täglich wiederholenden Tournee-Alltags zu verlassen. Seine Interpretation von Theo Mackebens »Bei dir war es immer so schön« ist zweifellos einer dieser Höhepunkte. Auch dann, wenn die gewohnt sauber und exakt aufspielenden Musiker des Palast Orchesters ihr Erstinstrument zur Seite legen und zur Rassel, zur Glocke oder gar zur eigenen Stimme greifen und den Eindruck machen, ihrer Spielfreude einen extra Schub zu geben, steigt die Stimmung und gewinnt die Atmosphäre im eigentlich zu großen und vor allem für diese Stilistik auch deutlich zu halligen Saal. Die Rhythmusgruppe verschwimmt über weite Strecken leider ebenso wie alle bewegteren Stellen des Bläsersatzes, dessen Virtuosität man nur erahnen kann. Entsprechend gelingen die Balladen überzeugender als die schnellen Tänze vom Foxtrott über Swing, Rumba und Tango bis zum Pasodoble, denn dieser expliziten Tanz-Bar-Musik fehlt es an diesem Abend an Tanz leider ebenso wie an einer Bar. Oder anders gesagt: wenn man sich zu dieser Musik nicht bewegen kann, sondern ihr nur nüchtern im Sessel des Konzertsaales lauschen, müsste man wenigstens in die Lage versetzt werden, alle Nuancen hören und kleinen Delikatessen genießen zu dürfen. Anstelle der im Liedtext besungenen „kleinen Konditorei“ aber fühlt man sich angesichts des beachtlichen und für symphonische Musik sicherlich ideal konzipierten Nachhalls eher in eine Bahnhofshalle versetzt – hier zeigt sich bedauerlicherweise der Unterschied zwischen Tanzpalast und Kulturpalast.
Der Anteil der Original-Kompositionen von Nico Dostal, Will Meisel, Fred Raymond und Comedian-Harmonist-Klassikern ist deutlich höher als die wenigen Neukompositionen wie »Kein Schwein ruft mich an« (in neuem Arrangement) oder »Küssen kann man nicht alleine«. Textlich beackert man das weite Feld des ewigen Durcheinanders zwischenmenschlicher Beziehungen vom Kennenlernen bis zum Wieder-Loswerden, von »Bei mir bist Du schön« bis »Das hat mir noch gefehlt« – das ist so erwartbar wie nett, manchmal sogar lustig, wirft beim Rezensenten aber doch mehrmals während des Konzertes die Frage auf, wie sich eine inhaltliche Verbindung zu den restlichen Konzerten der 40. Dresdner Musikfestspiele herstellen lässt, beziehungsweise ob dieses Konzert überhaupt etwas mit dem Festivalthema LICHT zu tun hat. Zweifellos waren die mehrfarbige und perfekt aufeinander abgestimmte Beleuchtung der Musiker-Notenpulte und des Schlagzeuges so eindrucksvoll wie bereichernd für das Konzert-Erlebnis. Und doch wünscht man sich darüber hinausgehenden Querverbindungen, sucht weiter nach: mehr Licht…
Peter Christian Feigel