Drei abenteuerliche Ausflüge haben uns in den letzten Tagen jeweils an den Horizont der klassischen Musikwelt gebracht. Ganz unterschiedlich war dabei die Fürsorge der gebuchten Reiseleiter – Bryn Terfel, Bill Murray und Cameron Carpenter. Auf einer dieser Wanderungen hätten wir tatsächlich beinah zwischendurch aufgegeben.
Mit Sir Bryn Terfel würden wir gern öfter und weiter durch die saftig-grünen Klassiklandschaften pilgern! Der Bariton gab in Begleitung von Eugene Asti den allerersten Liederabend im recht gut gefüllten neuen Kulturpalast-Saal. Dramaturgisch aufgebaut war der quasi als musikalische Autobiografie: mit einfachen Liedern, die der Sänger seit seiner Kindheit kennt, begann das Konzert; über die englischen Balladen, die der Gesangslehrer dem jungen Studenten aufs Notenpult legte, reisten wir weiter, streiften Schumann und Schubert und erreichten schließlich die kleine Anhöhe, das Ziel der Mittwochsreise: Opernarien von Gounod und Boito. Auf dem Heimweg – es dunkelte schon – zog der Sänger noch ein Schubertsches „Allerseelen“ aus dem Ärmel (dass Terfel hier von der anstrengenden Wanderung stimmlich schon ganz schön angekratzt war – geschenkt) und legte schließlich nach dem stürmischen Beifall das Jacket ab, um mit einem kecken »If I were a rich man« den Schlenker um die Hausecke zum Feierabendbier zu nehmen.
In den Hollywoodmodus schalteten die Mitwirkenden des Pfingstsonntagskonzertes am selben Ort mit ihrem filmreifen Auftritt über die Bühnenmitte. Das Programmheft stellte sie als „Bill Murray, Jan Vogler & Freunde“ vor. Die „Freunde“ stellten sich als Freundinnen bzw. Ehefrauen heraus: Vogler musizierte mit Mira Wang und der in Venezuela geborenen Wahl-New-Yorkerin Vanessa Perez. Eine bunte Abfolge amerikanischer Texte von Whitman über James Fenimore Cooper, Truman Capote und Mark Twain rezitierte der Schauspieler, mal von Musik unterlegt, mal „solo“; die Musikfreunde steuerten kleinere Songs und Stückchen bei. Was genau?, daran kann ich mich kaum noch erinnern: Bach, Piazzolla, Saint-Saens, Gershwin… In Erinnerung ist und bleibt übermächtig Bill Murray, seine charakteristische Art zu rezitieren, seine sanft-ironischen, hintergründigen Betonungen, Blicke, Gesten, seine liebevolle Laissez-faire-Haltung. Wie Murray zum heutigen Amerika steht? Diese Frage beantwortete sich zwischen den Zeilen für diejenigen, die die Texte verstehen. Mit dieser Doppelbödigkeit in einer Welt, die gestern die unendlich aufregende „neue“ war und sich heute in dümmlichen Polit-Scharmützeln zwischen Ewiggestrigen selbst zerlegt, erklärt sich der Titel des Programms, »New Worlds«, mit dem Murray, Vogler, Wang und Perez demnächst auf Tournee durch die Vereinigten Staaten gehen werden.
Eine ordnende, mit Pointen und Stimmungswechseln vertraute Regiehand (vielleicht die von Sofia Coppola?) hätte dem Programm sicher gut getan, vielleicht hätte sich auch Wes Anderson zu einem transportablen Bühnenbild hinreißen lassen (sollte es am Ende zu einer Netflix-Auskopplung á la »A very Murray Christmas« kommen?), alles wäre möglich gewesen und doch eigentlich überflüssig – Bill Murrays Stimme ist uns auf dieser Reise ins Amerika von gestern und vorgestern eigentlich völlig genug gewesen. Der berührendste Moment der Matinee? Als Murray Mira Wang eine Aufforderung zum Tanz ins Ohr flüsterte, die Geigerin einwilligte und die beiden wie in Zeitlupe in eine andere Welt eintauchten. Da hielten tausend Gäste den Atem an.
In der dampfenden Pfingsthitze des Jahres 2014 ist Cameron Carpenter zum ersten Mal live in Dresden zu erleben gewesen. Er schwatzte damals mit dem Publikum im ausverkauften Schlachthof, erklärte seine Touring-Orgel, gab kleine Kunststückchen zum Besten. Die Türen standen damals offen, die heiße Nachtluft wehte herein, das Publikum wusste sich schwitzend eins mit dem Tausendsassa dort oben auf der Bühne, an seinem Monster-Instrument, ein denkwürdiger Abend war das. Nun ist es ja das Ziel des Organisten, die Klassik sexy zu machen, wohl riskiert er auch immer wieder Irritationen, die ja bekanntlich manchmal zur Bewusstseinserweiterung führen. So ist vielleicht auch zu erklären, warum zu Pfingsten im Schlachthof erneut spontan ein Weihnachtslied erklang: Carpenter ist nicht von dieser Welt, er lebt nicht in unserer Zeit, er ist ein ferner Besucher vom Sirius oder noch weiter, er will uns dahin mitnehmen und jedes Transportmittel ist ihm dafür recht. Das Konzert am Montag jedoch wollte nicht abheben. Scheu eilte Carpenter auf die Bühne, still verbeugte er sich, wenn sich das Publikum denn einmal traute zu applaudieren. Dazwischen unverdrossen heruntergeratterte Arrangements von Bach bis Piazzolla ohne einen Funken Inspiration, peinliches Schweigen zwischen den Stücken, ein stummes Publikum, das sich von den dynamischen Volten und paradiesvogelhaften Registrierungen partout nicht vom Sitz blasen lassen wollte. Wo Terfel den jovialen Conferencier gegeben hatte, Murray und Freunde sich mit dem Publikum eins wussten und die Seele baumeln lassen konnten, wurde der Ausflug mit einem sichtlich nervösen Cameron Carpenter zu einem anscheinend ziellosen, verbissen durchgezogenen Umherirren in der großen weiten Musikwelt. Wohl blieb das Publikum bis zum Ende des Konzerts bei der Stange; die vom Veranstalter organisierte Aftershow mit DJ und Cocktails allerdings fiel mangels Beteiligung ins Wasser. Und ich musste auf dem Heimweg an einen vierten Reiseführer, an den „hübschen und leichtsinnigen“ Girolamo Fremdenführer denken. Durch einen Zeitungsartikel wird das Naturtalent bekannt, tritt im Radio und im Fernsehen auf, macht Karriere – und sein Tun wird zur Karikatur, zur leeren Routine, verliert nach und nach jeden Gehalt, jeden Sinn.
Was war gleich noch mal der Grund, Bachsche Werke an einem omnipotenten fünfmanualigen Synthesizer mit gigantischen, rot-blau angeleuchteten Lautsprecherboxen zu interpretieren? Und wer braucht dabei den freien Blick auf nervös blinkernde Rechnertürme? Diese ironiefrei überkandidelte Inszenierung haben doch weder das Publikum, noch der Komponist, noch der Interpret nötig.