Die Absetzung oder auch das Verbot missliebiger Theaterstücke kennt man, zumindest im Osten. In der DDR konnten dann immerhin doch manche dieser Stücke in der Provinz gespielt werden, die an größeren Häusern keine Chance hatten.
Ballette traf es seltener. Das Ballett »Der Bolzen« von Dmitri Schostakowitsch erlebte zwar 1931 am Leningrader Kirov-Theater seine Uraufführung, wurde aber kurze Zeit darauf abgesetzt. Geradezu unheimlich linientreu, befanden damals die stalinistischen Linienrichter über die seltsame Groteske, die seit 2006 in einer Choreografie von Alexei Ratmansky im Repertoire des Bolshoi-Theaters in Moskau ist. Und der Genosse Stalin nahm erregt Anstoß, als er die bis dahin äußerst erfolgreiche Oper »Lady Macbeth von Mzensk« am 26. Januar 1936 im Moskauer Bolshoi-Theater sah. Zwei Tage später hieß es in der linientreuen Prawda, es handle sich hier um »Chaos statt Musik«. Stalin musste gar nichts offiziell anweisen. Kritiker, die bisher das Werk gelobt hatten, taten Abbitte, das Theater setzte die Aufführung ab, für lange Zeit war das Werk in der Sowjetunion verboten. Erst in der „Tauwetterperiode“ unter Chruschtschow konnte eine vom Komponisten gemilderte Fassung wieder aufgeführt werden. Die Urfassung kam erst im Jahre 1996 wieder zur Aufführung, in St. Petersburg war das. Und im Westen ließ ließ der damalige Oberbürgermeister von Köln, Konrad Adenauer, die Ballettpantomime »Der wunderbare Mandarin« von Béla Bartók nach der Uraufführung am 27. November 1926 wegen moralischer Anstößigkeit verbieten.
Vor einem solchen Hintergrund verwundert es nicht, wenn angesichts der gegenwärtigen Turbulenzen um ein geplantes und drei Tage vor der Uraufführung abgesetztes Stück über den Tänzer Rudolf Nurejew am Moskauer Bolschoi-Theater von Zensur, von Einschränkung der Kunstfreiheit und im Zusammenhang mit einer hier unumgänglichen Thematik, von homophoben Zusammenhängen die Rede ist. Und dies in zweifacher Hinsicht: daraus, dass Nurejew homosexuell war, dass er seine Neigung exzessiv auslebte, hat er selbst kein Geheimnis gemacht. Allerdings auch erst, als er nach seiner Flucht in den Westen nicht mehr die Verfolgungen des KGB fürchten musste, wo man sich ebenso wie beim Staatssicherheitsdienst der DDR sehr dafür interessierte, wer wann und wo mit wem schlief. Manche der Biografien sparten hier nicht mit reißerischen Detailschilderungen.
Homosexualität war seit 1933 in der Sowjetunion gesetzlich verboten und wurde hart bestraft. Tausende verschwanden in Lagern. Auch wenn das gesetzliche Verbot nicht mehr gilt, die Diskriminierung und die Ablehnung großer Teile der Bevölkerung, begünstigt durch menschenverachtende Statements führender Politikerinnen und Politiker, vor allem auch durch die indifferente Haltung des Präsidenten Putin in dieser Frage, der sich im Hinblick auf die Einschränkung der öffentlichen Wahrnehmung homosexueller Menschen auf deren Schutz vor militanten Gegnern beruft, verhindern so gut wie jede angemessene öffentliche Diskussion oder gar kleinste Ansätze von Aufklärung. Kinderschutz und Jugendschutz können auch zu Totschlagargumenten werden.
Vor diesem Hintergrund fällt es schwer sich vorzustellen, dass am ersten Opernhaus des Staates, beim Ballett des Bolschoi-Theaters, das Leben eines schwulen Künstlers im Mittelpunkt einer großen, genreübergreifenden Produktion stehen soll. Und hat man Nurejew wirklich verzeihen können dass der damalige Startänzer sich nach einem Gastspiel des Leningrader Kirov-Theaters 1961 in Paris abgesetzt hatte? In Abwesenheit wurde er zu mehrjähriger Lagerhaft verurteilt. Zudem kann man ja nicht erwarten, dass einer der angesagtesten Theater- und Filmregisseure Russlands wie Kirill Serebrennikow, gemeinsam mit dem renommierten Tänzer und Choreografen Juri Possochow, diese Themen ausblenden würde. Nein, so die Leitung des Theaters, es habe keine Direktive seitens der Regierung, seitens des Kulturministeriums gegeben; man habe allein die künstlerische Qualität im Blick – und da habe sich eben herausgestellt, dass dieses Stück noch nicht aufführungsreif sei.
Es gab Gerüchte, dass Bolshoi-Generaldirektor Wladimir Urin entsetzt gewesen sei. Es handle sich, so wird Urin in einer Agenturmeldung zitiert, um eine „künstlerische Entscheidung„, dennoch, die Premiere finde statt, aber erst am 4. Mai 2018. Das wiederum sieht einer der Tänzer der Rolle des Nurejew, der ungenannt bleiben möchte, ganz anders. Er bestätigte zwar, dass es Probleme gegeben habe, das sei aber in einem solchen Prozess normal, so der Tänzer gegenüber AFP, „Deshalb glaubt auch niemand in der Truppe an die Begründung“.
Weiter kann man im Artikel lesen, eine regierungsnahe Quelle habe dem unabhängigen Sender Rain TV gesagt, in dem Ballett sei es um „Freiheit für Schwule“ gegangen, und dies habe wie eine „Provokation“ gewirkt. In Russland ist Homosexualität weitgehend ein Tabu-Thema: Homo-Ehen sind verboten, der Ruf nach rechtlicher Gleichstellung Homosexueller wird abgelehnt. Ein seit 2013 geltendes Gesetz stellt positive Äußerungen über Homosexualität, angebliche „Homosexuellen-Propaganda“, in Anwesenheit von Minderjährigen unter Strafe. Für das umstrittene Werk war allerdings von vornherein vorgesehen eine Altersbgrenzung ab 18 Jahre durchzusetzen.
In einem längeren Kommentar der New York Times, in dem immerhin die Möglichkeit einer Verschiebung der Uraufführung aus künstlerischen Gründen nicht gänzlich unberücksichtigt bleibt, gibt es auch einen Link zu einem Video, auf dem man einen kurzen Probenausschnitt sieht. Leider weiß man nicht, in welcher Phase der Proben diese Aufnahmen gemacht wurden, auf denen in der Tat noch sehr unfertig wirkende kurze Passgen zu sehen sind, allerdings könnten natürlich für die Hüter der Moral die als queere Gestalten schreitenden Tänzer in High Heels schon eines der Probleme sein, mit denen sie nicht umgehen möchten und deshalb zu verhindern suchen, es anderen Menschen zu ermöglichen. Inzwischen aber kursieren Fotos und Videos im Netz, die scheinen schon einen aktuelleren Stand wiederzugeben. Da sind auch diese Tänzer zu sehen, vor allem aber, und das dürfte bei den fürsorglichen Verantwortlichen Anstoß erregen, ein nackter Tänzer bei Hinteransicht und eine Videozuspielung eines nackten Mannes von vorn in voller Größe.
Aber sollte es einem Regisseur vom Range Kirill Serebrennikow bei einem Werk über das widersprüchliche und auch zerrissene Leben eines Ausnahmekünstlers wie Rudolf Nurejew, der 1993 an AIDS starb, wirklich nur um nackte Provokationen gehen? Das ist schwer vorstellbar, zumal man ihn als Opernregisseur ja auch hierzulande kennt. Natürlich, denkt man an seine Sicht auf »Salome« an der Oper in Stuttgart, oder auf »Der Barbier von Sevilla« an der Komischen Oper in Berlin, sind die Meinungen geteilt, natürlich gibt es Zustimmung und Ablehnung. Julia Spinola sah Serebrennikows Inszenierung der Rossini-Oper als Variante von Shakespeares abgründiger Komödie »Der Kaufmann von Venedig«. Über die Stuttgarter »Salome« kann man lesen, dass diese Inszenierung so eindrucksvoll sei, wie man es noch nie gesehen habe, aber auch, dass sie schlicht „nachlässig“ sei.
Aber ist das nicht eine der ersten Aufgaben des Theaters, auch des Tanzes, konstruktive Widersprüche hervorzurufen? Eine genrübergreifende Musiktheater- und Ballettproduktion über eine so bedeutende und auch widersprüchliche Persönlichkeit wie Rudolf Nurejew böte sich dafür an.