Als Gustav Mahler die Uraufführung seiner »Sinfonie der Tausend« im September 1910 in Münchens Neuer Musikfesthalle auf dem Ausstellungsgelände vorbereitete, begann der Gymnasiallehrer Oswald Spengler in der gleichen Stadt in kulturhistorischen Studien über den Untergang des Abendlandes zu sinnieren. Nietzsches Zarathustra war von seinem Berg herabgestiegen und prophezeite nicht minder das Ende der platonisch-christlichen Werte. Und Rilke sieht seinen Cornet am Ende in einem apokalyptischen Feuer vergehen. Das ist Zeitgeist vorm 1. Weltkrieg. Mahler aber glaubt an die alten Werte, bezieht sich wie auch Rudolf Steiner in Dornach bei Basel in seinem Bildungszentrum »Goetheanum« darauf. Für Mahler war die 8. Sinfonie – wie er schrieb – „das Größte, was ich bisher gemacht habe“, „diese da ist ein großer Freudenspender“ und „ein Geschenk an die Nation“.
Ein epochales Werk
Mit der 1. bis 4. Sinfonie hatte Mahler die Möglichkeiten der Beethovenschen Schicksals-Sinfonie ausgelotet und kam am Ende der Vierten zum Schluss, dass das Elysium nur ein Kindertraum sei. Deshalb startete er in der Fünften mit einem der expressivsten Trauermärsche, die er je schrieb, einen Neuanfang. Aber schon in der Sechsten wird der sinfonische Held mit einem großen Hammer „mit kurzem, mächtigem, aber dumpf hallendem Schlag“ zu Fall gebracht. Nach der Siebenten mit drei idyllischen »Nachmusiken« kehrt er in der Achten zum großen sinfonischen Thema zurück – aber nun in großer, fast überdimensionaler Besetzung. Wie man dem Programmheft der Uraufführung entnehmen kann, waren 858 Sänger und 171 Instrumentalisten beteiligt. Aus Wien reisten 250 Mitglieder des Singvereins der Gesellschaft für Musikfreunde an; aus Leipzig ebensoviele vom Riedel-Verein. Dazu kamen 350 Kinder der Zentral-Singschule in München sowie acht Gesangssolisten aus München, Wien, Frankfurt, Hamburg, Berlin und Wiesbaden.
Die Aufführung war ein grandioser Erfolg. Ein Biograf überliefert: „Wer Mahler dort oben stehen sah, wohl eine halbe Stunde umdrängt von lachenden und weinenden Männern und Frauen, die mittränenüberstömten Wangen ihm ihren Dank entgegenriefen und sah, wie er mit frohem Lächeln, mit einem Leuchten auf dem blassen Antlitz und mit einem tief in sich hinein- und zurückschauenden Blick auf die tücherwehenden, stammelnden, händeklatschenden Menschen unten im Saal hinabsah, der musste das Gefühl haben, ihn auf dem Höhepunkt seiner Existenz und in der Stunde seines höchsten Triumphes zu sehen“. Werte abendländischer Tradition nahm er in die zwei Sätze des Werkes auf: den uralten, mittelalterlichen Pfingstchoral „Veni, creator, spiritus“ (Komm, Heiliger Geist) im 1. Satz sowie die aufklärerische Tradition mit Goethes »Faust« (Schluss-Szene des 2. Teils) im 2. Satz: „Alles Vergängliche ist nur eine Gleichnis; das Unzulängliche, hier wird´s Ereignis; das Unbeschreibliche, hier ists getan; das ewig Weibliche zieht uns hinan“.
Etwas von dem gewaltigen Ton dieses Werkes blieb auch in der Wiederaufführung am Wochenende erhalten. Es war die dritte der letzten Jahrzehnte: 1981 mit Herbert Kegel, 2007 mit Rafael Frühbeck des Burgos im alten Kulturpalast. Nun also erklang das Werk im neuen Saal mit großer Besetzung. Das Orchesterpodium war voller Intrumente: Streicher, Bläser, Harfen, Celesta, Klavier, Orgel und Schlagwerk sowie rechts und links auf dem Seitenrang die beiden Profi-Chöre (Staatsoper links, Rundfunk rechts), verstärkt durch den Philharmonischen Chor und in der Mitte unter der Orgel der Kinderchor. Jörn Hinnerk Andresen und Gunter Berger hatten die Chöre bestens einstudiert. So entstand eine Aufführung, die sich tief einprägte und begeistert gefeiert wurde.
Michael Sanderling als Dirigent sah das Werk tatsächlich sinfonisch. Er gestaltete die thematischen Strukturen, ließ sich nicht durch äußere Momente szenischer Art von der sinfonischen Durchdringung des Satzes abdrängen, auch nicht durch die markanten Chöre. Gewaltig dröhnte der Eingangschor mit dem Pfingstchoral „Veni, creator spiritus“, fundamental vom Plenum der Orgel markiert. Es war der Sturm eines „Dies irae“, der da losbrach und bei aller klanglichen Variierung auch durchgehalten wurde, getragen von der sinngebenden sinfonischen Gestaltung.
Die Klangwucht war wesentlich mitgeprägt von den markanten Chören und nur gering unterbrochen von den Solisten, die hier mehr im Ensemble denn als Einzelsänger zu wirken hatten, gleichsam als Conertino gegen das Tutti der Chormassen. Differenzierter zeigte sich der 2. Satz nach Goethes „Faust“ II, der mit einem wunderschönen, klanglich ausgewogenen Adagio begann. Bei allem Nachgeben auf szenische Details blieb Sanderling hier dem sinfonischen Duktus seiner Auslegung treu. Auch die Gesangssolisten konnten nun ihre stimmlichen Möglichkeiten aussingen: der Tenor von Brandon Jovanovich, der Alt von Gerhild Romberger und die Soprane der Schluss-Szene mit der Büßerin/Gretchen (Ailish Tynan) und der Mater gloriosa aus den Höhen des Saales (Heather Engebretson) traten besonders hervor. Zu den tief bewegenden Eindrücken gehörte jene Finalsteigerung vom Vergänglichen, das nur Gleichnis ist, in fast nur geflüstertem Tonfall, der zu einer Chorgestaltung führt, die an den Schluss der 2. Sinfomie erinnert: „Auferstehen, auferstehen wirst du“, heißt es dort. Diesen Gedanken führt Mahler hier zum sinngebenden Einstieg des humanitären Schlusses: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan!“.
Ergriffenes Schweigen. Und dann jubelnde Zustimmung für eine Aufführung, die ich so schnell nicht vergessen werde. Klangwirkungen, die faszinierten, Chöre, die zu packen verstanden. Eine „Sinfonie der Tausend“ war es zahlenmäßig nicht; aber die Wirkung der immerhin fast vierhundert Mitwirkenden (120 Instrumentalisten, 274 Sänger) war „tausendfach“ und beeindruckte das begeisterte Publikum.