Bevor es um die Ballett- und Tanzereignisse des Jahres 2018 geht, ein kleiner Rückblick auf Ereignisse in der Ballettwelt, die mich in den letzten Monaten des vergangenen Jahres in besonderer Weise beeindruckt haben. Unsere Erinnerungsreise geht heute zuerst nach Prag, später nach Wien und Warschau, nach Gelsenkirchen und nach Zürich.
In Prag hat Filip Barankiewizc mit Beginn der Saison die künstlerische Direktion des Nationalballetts übernommen. Der polnische Tänzer, der in Warschau und in Monte Carlo bei Marika Besobrasova ausgebildet wurde, wo er ein Stipendium der Nurejew Stiftung erhielt, war bald gefeierter erster Solist beim Stuttgarter Ballett. Eine seiner Paraderollen war der Petruccio in John Crankos Ballettkomödie »Der Widerspenstigen Zähmung« nach William Shakespeare. Mit Ironie und Augenzwinkern hat er diesen Macho mit dem unwiderstehlichem Charme auch in der Dresdner Aufführung getanzt. Ich erinnere mich gut an eine Vorstellung mit ihm zum Ende der Saison 2007/2008 in der Semperoper. Seine Partnerin als widerständige Katherina war Leslie Heylmann, die sich mit dieser Partie von Dresden verabschiedete, um künftig bei John Neumeier in Hamburg zu tanzen. Dort ist sie bis heute sehr erfolgreich. Abschied von der Bühne nahm damals auch Maik Hildebrandt: unvergesslich dieser oftmals so humorvolle Tänzer! Jetzt bildet er in München junge Tänzerinnen und Tänzer aus.
Und Barankiewizc wurde also Chef in Prag. »Timeless« heißt der erste Abend unter seiner Direktion. Zeitlos im Sinne missverstandener Unverbindlichkeit ist hier gar nichts. Wenn dieser Begriff etwas verdeutlicht, dann insofern, als dass dieser Ballettabend viel von den äußerst hohen Ansprüchen des Balletts vermittelt, die man nicht einfach aufgeben kann, wenn die künstlerischen Horizonte geweitet werden. So beginnt dieser Abend mit George Balanchines »Serenade«, uraufgeführt 1934 in New York, zu der »Serenade für Streichorchester« von Peter Tschaikowsky in der Einstudierung von Nanette Glushak. Die unterschiedlichen Gruppenarrangements und die Solistinnen Aya Watanabe, Alina Nanu und Miho Ogimoto können an diesem Abend auf bezaubernde Weise die magische Geometrie dieser Serenade, die Balanchine selbst als „Tanz im Mondschein“ beschrieb, vermitteln.
Mut zum Risiko bewies Barankiewizc, als er den israelischen Choreografen Emanuel Gat mit einer Uraufführung betraute. »Separate Knots« heißt Gats Prager Kreation zum ersten und letzten Satz der dritten Klaviersonate von Fryderyk Chopin, die der Pianist Marcel Levický auf der Bühne des Nationaltheaters im musikalischen Dialog mit der Tänzerin Morgane Lanoue und dem Tänzer Federico Ievoli interpretiert. Nach dem letzten Stück reißt es das Publikum förmlich von den Sitzen! Kein Wunder nach den aufpeitschenden Rhythmen von Igor Strawinskys Musik zu »Le Sacre du Printemps«. Aber auch zurecht nach den enormen Leistungen, jetzt vornehmlich der Tänzer, für die es – bei einem solchen Stück nicht so üblich – immer wieder Zwischenapplaus gibt. In Prag kommt das inzwischen in einer Vielzahl von Choreografien getanzte Werk in der Fassung von Glen Tetley auf die Bühne, die er 1974 für das Ballett der Bayerischen Staatsoper geschaffen hatte. Es bildet zusammen mit »Pierrot lunaire« und vor allem »Voluntaris«, „die Stützpfeiler seines Weltrums“, so Horst Koegler vor zehn Jahren, als Tetely, der rastlose Weltenwanderer, im Alter von 81 Jahren verstarb. Aus diesem Anlass nahm damals in Dresden auch Ballettdirektor Aaron S. Watkin Tetleys meditative Choreografie »Voluntaries« zum Konzert für Orgel, Streicher und Schlagwerk von Francis Poulenc wieder ins Repertoire. Bei der Dresdner Erstaufführung 1995 begegnete der Tänzer Alexander Zaitsev erstmals Glen Tetley. Zaitzev, der oftmals die Rolle des hier männlichen Opfers im »Sacre« tanzte, hat das Werk jetzt zusammen mit Bronwen Curry beim Ballett des Prager Nationaltheaters einstudiert.
„Ich war geboren, um Opfer zu sein“
Tetleys Choreografie, die nur partiell so etwas wie Handlungsmomente hat, dafür aber ihre Kraft aus der Musikalität der Bewegungsabläufe bezieht und somit ein weites Spektrum an Emotionen schafft, ist eine der härtesten Herausforderungen für eine Kompanie, insbesondere für die Tänzer und vor allem den Solisten in der Rolle des Opfers. In Prag meistert Ondřej Vinklát diese immer wieder in atemberaubenden Momente. Ob in verhalteneren Varianten seines Tanzes, in fast selbstzerstörerischen Ausbrüchen, vor allem in den kunstvollen, aber niemals vordergründig demonstrierten Sprüngen, es gelingt diesem Tänzer zu vermitteln, was es heißt, „ich war geboren, um ein Opfer zu sein. Dafür bin ich in diesem Stück da.“, wie Alexander Zaitsev den Konflikt dieser tragischen Figur beschreibt. Wenn dann noch, so wie in dieser Aufführung, die Tänzer von Strawinskys Klangkaskaden regelrecht getrieben, mit wunderbaren Grand jetés en avant wie im Fluge immer wieder die Bühne queren, dann weckt diese erste Premiere des neuen Ballettdirektors auf jeden Fall die Neugier auf den nächsten Höhenflug, der auf jeden Fall wieder auch dem Risiko wieder Raum geben sollte.
Noch in dieser Saison, nämlich ab dem 19. April, folgt im Nationaltheater einer der rasantesten Ballettspäße des letzten Jahrhunderts aus London, Frederik Ashtons »La fille mal gardée«, uraufgeführt 1960 beim Royal Ballet. Ganz sicher auch eine Hommage an den großen Choreografen, anlässlich seines 30. Todestages, am 18. August. Aus diesem Anlass wird auch beim Dresdner SemperoperBallett ab 10. März dessen Meisterwerk »The Dream« nach Shakespeares »Sommernachtstraum« zur Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy seine Premiere feiern. Erstmals eine Choreografie von Frederick Ashton in Dresden!
Filip Barankiewizc beschließt seine erste Saison in Prag mit einem Abend, der ganz dem zeitgenössischen Tanz gewidmet ist. Dafür konnte er als Vertreter der jüngeren Choreografengeneration Katarzyna Kozielska, Andrej Kaydanowský und Ondřej Vinklát gewinnen. Premiere ist, am 14. Juni, in der Prager Neuen Szene.