Eigentlich war ich letztes Jahr nach Wien gefahren, um endlich eine Choreografie mit Kultstatus zu erleben, von der ich oftmals gehört hatte: Frederick Ashtons »Marguerite and Armand«, uraufgeführt 1983 in London, kreiert für Margot Fonteyn und Rudolf Nurejew, der sich 1981 bei einem Gastspiel des Kirov-Balletts in Paris in den Westen abgesetzt hatte. Mt diesem Ballett, mit der Rolle das Armand, begann sein Weltruhm – und für Margot Fonteyn, die nach 25 Jahren als begnadete Tänzerin eigentlich vorhatte aufzuhören, an seiner Seite eine zweite Karriere.
Der Abend in Wien, ganz britisch, mit zwei weiteren Stücken aus London, bot allerdings zunächst zwei ebenfalls für mich bis dahin unbekannte Stücke, und am Ende waren es dann wirklich, aller guten Dinge drei: very British!
Mit »EDEN|EDEN« von Wayne McGregor, 2005 vom Stuttgarter Ballett uraufgeführt, stand der jüngste der drei Vertreter britischer Ballettkunst nach MacMillans »Concerto« von 1996, und Ashtons »Marguerite and Armand« aus dem Jahre 1963, im korrespondierenden Mittelpunkt dieses Ballettabends. Zur Musik des dritten Aktes, »Dolly« aus Steve Reichs Video-Oper »Three Tales« stellt McGregor die Frage nach der Verlorenheit des menschlichen Körpers in einer Welt, in der einzig das Rationale, das Logische und das Analytische vorherrschen. Die Verlorenheit wird optisch eindrücklich auf der weiten, leeren Bühne, wenn Tänzerinnen und Tänzer als geklonte Wesen, einheitlich in Kostüm und Maske, vor dem seiner Blätter entledigten Baum des Gartens Eden aus dem Boden wachsen.
Wie sich der Tanz eignet, einer solchen Thematik widerständigen Ausdruck zu geben, zeigt sich, wenn die Tänzerinnen und Tänzer ihre Individualität nicht den strengen und technisch dominierten Ansprüchen der Choreografie zu opfern bereit sein können und sollen. Am Beginn des britischen Abends gab es mit Kenneth MacMillans »Concerto« zu Dmitri Schostakowitschs zweitem Klavierkonzert mit dem Solisten Igor Zapravdin und Valery Ovsyanikov am Pult des Orchesters der Wiener Staatsoper, eine Hommage an George Balanchine. MacMillian bekennt sich vornehmlich in den solistischen Passagen, wenn er den musikalischen Vorgaben folgt dazu, dass die Musik der Boden sei, auf dem getanzt wird.
So begeistern im ersten Satz mit der akzentuierten Rhythmik des Soloinstrumentes die Solisten Nikisha Fogo und Denys Cherevychko. Im zweiten, von romantischer Melodik geprägten Satz, sind den Solisten lyrische Passagen vorbehalten und werden mit entsprechender Anmut von Nina Poláková und Roman Lazik getanzt. Das finale Rondo eröffnet die Solistin Alice Firenze. Sie setzt mit lebhaftem Gestus einen Höhepunkt, bevor ein Reigen der Gruppe mit großem Finale à la Balanchine den ersten Teil beschließt.
Und wirklich wie erwartet das Beste zum Schluss. Nach vierzig Jahren wieder in Wien, und jetzt bin ich dabei! »Marguerite and Armand« von Frederick Ashton, damals zur Premiere beim Ballett der Staatsoper mit Margot Fonteyn und Rudolf Nurejew. Jetzt sind Liudmila Konovalova als Marguerite und Jakob Feyferlik als Armand erfolgreich in diesen anspruchsvollen Rollendebüts zu erleben. Angelehnt an den Roman »Die Kameliendame« von Alexandre Dumas, konzentriert sich Ashtons Ballett zur für Klavier und Orchester arrangierten h-Moll-Sonate von Franz Liszt mit der Solistin Shino Takizawa im intensiven Kammerspiel kraft der Kunst des auf die Handlung bezogenen Pas de deux, ganz auf Marguerite und Armand. Er erzählt in einer Rückblende mit Stationen so glücklicher wie unglücklicher Erinnerungen dieser von Beginn an zum Scheitern verurteilten Beziehung: Der Tod diktiert den Tanz.
In einer Traumsequenz erscheint Armand in einem Solo der sterbenden Marguerite, worauf ein Duo glücklichen Übermutes folgt, darauf ein Höhenflug der Hoffnung mit dem grausamen Absturz aus Verzweiflung und Erniedrigung und dem Spitzentanz der Einsamkeit. Am Ende der Tanz mit dem Tod bei verlöschendem, zärtlichem Widerstand Marguerites in Armands Armen.
Mag sein, dass hier der Geist vergangener Jahre weht. Mag sein, dass die Ästhetik der Ausstattung nicht mehr unserem Geschmack entspricht. Das alles aber ist sofort hinweggeweht, wenn um den Tanz geht; vor allem, wenn so wunderbar getanzt wird wie an diesem Abend in Wien.
Wie visionär Tanz sein kann!
Eine weitere Reise führte mich Ende November nach Gelsenkirchen und galt dem von Bridget Breiner seit einigen Jahren erfolgreich geleiteten Ballett am Musiktheater im Revier. Den Ausschlag gaben für mich die Einstudierungen zweier Choreografien, die auch nicht gerade neueren Datum sind. Ich habe sie mehrfach gesehen, sie gehören aber eben zu denen, an denen ich mich eben nicht satt sehen kann.
Wer möchte glauben, dass ein Pas de deux wie »Jeunehomme« von Uwe Scholz zum zweiten Satz von Mozarts Klavierkonzert KV 271 vor dreißig Jahren entstanden ist? Vor allem, wenn so getanzt wird wie in Gelsenkirchen von Lucia Solari und Carlos Contreras! Als erwachten die Noten aus der Projektion zum Leben, lassen sie bei bester Beherrschung der enormen Ansprüche dieser für Scholz so typischen Bewegungen, bei denen die Frau immer wieder zum Flug erhoben wird um dann bei den sanften Erdungen in einen so intensiven wie berührenden Dialog mit ihrem Partner zu treten, ganz gegenwärtig werden. Momente der Einsamkeit und der Entfremdung wechseln mit denen glücklicher Gemeinschaft. Zum Höhepunkt wird das Solo der Tänzerin zur Kadenz des Konzertsatzes.
Vor zehn Jahren entstand »A Sweet Spell of Oblivion« von David Dawson, den man ja in Dresden bestens kennt, zu neun Präludien aus Johann Sebastian Bachs »Wohltemperiertem Klavier«. Der Wechsel zwischen Soli, Duetten, Trios oder Paaren, Dialoge und Korrespondenzen der Solistinnen oder Solisten zur Gruppe, wird von vier Tänzerinnen und drei Tänzern des Gelsenkirchener Balletts lebendig und zeitgemäß getanzt. Sie entsprechen Dawsons Ansprüchen, wenn er neoklassische Techniken mit denen des zeitgenössischen Tanzes verbindet. Und so wird man diesen „süßen Zauber des Vergessens“ so schnell nicht vergessen.
Dann wurde es gegenwärtiger mit einer Choreografie von Bridget Breiner, die nach ihrer Karriere beim Stuttgarter Ballett erste Solistin in Dresden war. Als Überraschungsgast bei einer Gala der Tanzwoche Dresden brachte sie mit einem Solo erstmals eine Choreografie von Marco Goecke nach Dresden in das Festspielhaus Hellerau. »In Honour of«, 2014 für das Nationalballett in Riga geschaffen, wurde an jenem Abend ins Gelsenkirchener Repertoire übernommen: also Deutschlandpremiere! Zu Ehren von Henry Purcell hat sie zur Musik des lettischen Komponisten Georgs Pelēcis für eine Tänzerin und zwei Tänzer im Dialog der zeitgenössischen Klänge als Ehrerbietung vor dem Meister der englischen Barockmusik tänzerische Korrespondenzen geschaffen, die sich zwar immer wieder tänzerischen Traditionen von Balanchine bis Forsythe verpflichtet wissen, aber daraus die Inspirationen für den Tanz der Gegenwart beziehen.
Einen Reißer gab es dann zum Finale. »Indigo Rose«, 1988 von Jiří Kylián zum 20jährigen Jubiläum des Nederlands Dans Theater II geschaffen, verfehlt seine Wirkung auch knapp dreißig Jahre nach der Uraufführung nicht. Vor allem, wenn es mit einer solchen Direktheit und Lebendigkeit wie von den neun Tänzerinnen und Tänzern der noch einmal bestens aufgelegten Kompanie von Bridget Breiner getanzt wird. Junge Menschen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Der große Auf- und Ausbruch, Kräftemessen, Überschuss, der Spaß, die Neugier, Tanz als Chance zu entdecken: Als würde dieser Tanz sie auf eine Reise übers Meer zu noch unbekannten Ufern führen, spannt sich über die Bühne ein weißes Segel und wird zur Projektionsfläche für die Schatten der Protagonisten, aus denen sie heraus tanzen oder hinter denen sie verschwinden können. Alles ist möglich, das Spiel offen. Wie visionär Tanz sein kann, vor allem wenn sich Erinnerung und Gegenwart aus so sinnliche Art begegnen, habe ich an diesem Ballettabend erlebt.
Die Neugier ist geweckt; einmal ist keinmal! Wenn Bridget Breiner am 17. Februar ihre Choreografie »Romeo und Julia« zur Uraufführung bringt, dann bin ich dabei und werde natürlich auch für Musik in Dresden berichten. Immerhin ist für die Rolle des Romeo Valentin Juteau vorgesehen. Diesen Tänzer aus Frankreich hatte Bridget Breiner bei jener Gala in Hellerau kennengelernt, wo er damals noch als Mitglied des Balletts aus Chemnitz tanzte. Jetzt ist er Solist in Gelsenkirchen.