Im November letzten Jahres reiste ich nach Warschau. Als passionierter Zugfahrer ist dies ab Berlin mit dem Warszawa-Express immer wieder für mich eine besonders Erlebnis, diesmal nicht zuletzt wegen eines kurz zuvor entdeckten Buches von Steffen Möller. Der Schauspieler und Entertainer (hätten Sie’s gewusst? Er ist Polens „beliebtester Deutscher“!) lebt seit 1994 in der polnischen Hauptstadt; seit ein paar Jahren pendelt er auch wieder nach Berlin. Als ich am 11. November letzten Jahres zurückreiste und tags darauf in den Medien von den dumpfen nationalistischen Ereignissen am Abend dieses denkwürdigen Tages hörte, dachte ich mir: wäre schon interessant zu erfahren, wie dieser Autor dazu steht.
Vor hundert Jahren an diesem Tag erlangte Polen nämlich seine Unabhängigkeit. Nach fast 150 Jahren unheilvoller Geschichte mit drei Teilungen gab es wieder einen polnischen Staat und einen enormen Aufschwung in der Kultur, insbesondere in der Musik. Dafür stehen Komponisten wie Eugeniusz Morawski, Aleksander Tansman und Karol Szymanowski. Aus diesem Anlass hatte das Polnische Nationalballett am Teatr Wielki zu einer Premiere eingeladen, Choreografien zur Musik dieser Komponisten mit dem Titel »Balety Polskie«. Mit Morawskis 1931 am Teatr Wielki uraufgeführtem Ballett »Świtezianka« nach der gleichnamigen Ballade des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz wurde der aus diesem Anlass konzipierte Abend eröffnet.
Kein verklärter Blick zurück ist das: Die Choreografien hat man Vertretern der der jüngeren, zeitgenössisch und international orientierten Generation anvertraut wie Robert Bondara, der die an Rusalka- oder Undinemotive erinnernden Szenen in die Gegenwart holt, in die Unbeschwertheit einer Gruppe junger Leute beim Badevergnügen in optischer Abstraktion einer Sommerlandschaft im Licht der Tages- und Nachtzeiten von Julia Skrzynecka. Ein junger Mann ist fasziniert von einem fremden Mädchen und wendet sich doch wieder ab von ihr und dem ihm vertrauten Mädchen aus der Gruppe zu. Zum choreografischen Höhepunkt nach Duetten und gemäldehaften Bildern trügerischer Friedlichkeit der Gruppen wird ein spannendes Trio, bei dem es so überraschend wie verblüffend zu einer Solidarisierung der Frauen kommt – mit tödlichem Ausgang für den Soft-Macho.
Mit dem 1924 im Pariser Palais du Trocadéro uraufgeführten Ballett »Sextuor«, kurz darauf in New York an der MET als »The Tragedy of The Cello«, des musikalischen Weltbürgers Alexander Tansman, jetzt mit dem Titel »Na Pięciolinii«, setzt der Choreograf Jacek Tyski mit diesem Intermezzo im tragikomischen Stil der Commedia dell’arte einen besonderen Akzent. Das heitere Liebesspiel der sechs tanzenden Instrumente mit den sich ständig verändernden Räumen von Olga Skumiał im Schwarz-Weiß des Art déco erinnert an die Leichtigkeit der Aufbrüche der Kunst in der Zeit zwischen den Weltkriegen. Tyski, der als Tänzer Erfahrungen bei Neumeier, Duato, Kylian, Forsythe, Kylián, Ek, Godani oder Eifmann und Krzysztof Pastor, dem derzeitigen Direktor des Polnischen Nationalballetts sammelte, hat sich bislang in seiner Heimat einen Namen als Choreograf gemacht. Er fügt diesem nur scheinbar heiteren Spiel eine interessante Erweiterung hinzu. In seiner Kreation spielt ein Tänzer als Komponist Tansman eine besondere Rolle. Er kann seiner Partitur nicht mehr Herr werden. Die Hommage an die Leichtigkeit des Seins bekommt einen empfindlichen Riss.
Jacek Przybyłowicz, in Warschau ausgebildet, zunächst Tänzer am Teatr Wielki, gab schon früh sein Debüt als Choreograf. Dann zog es ihn fort, er tanzte in Deutschland und Israel, hier bei Ohad Naharin, weltweit holte er sich Anregungen auf Tanzfestivals. Am Polnischen Tanztheater in Poznan begann seine choreografische Karriere, die ihn inzwischen wieder in die Welt hinaus führt. Für »Balety Polskie«, seiner vierten Arbeit in Warschau, hat er eine choreografische Uraufführung zum zweiten Violinkonzert von Karol Szymanowski kreiert. Bislang stärker in zeitgenössischen Stilen verortet, begibt er sich hier auf neoklassisches Terrain und besticht durch ganz und gar nicht vergangenheitsorientierten Tanz in bildhaften und räumlichen Korrespondenzen zur Musik für die Warschauer Kompanie mit über 50 Tänzerinnen und Tänzern im Dialog mit solistischen Passagen, Duetten und Trios. Zu einem Höhepunkt wird die choreografische Einbeziehung des Violinsolisten Jakub Jakowicz zur virtuosen Kadenz des Konzertes auf der Bühne, wenn eine Gruppe von Tänzern zunächst in aggressiver Rhythmik auftritt um dann immer stärker sich der sensibilisierenden Wirkung der Musik hinzugeben. Optisch geschieht dies vor den visionären Projektionen von Boris Kudelicka auf einer Rückwand, die am Ende über den Tanzenden schwebt und damit auch Assoziationen dahingehend provoziert, wie weit die einst visionären Träume freier und weltoffener Unabhängigkeit in Polen heute schon wieder entfernt sein mögen.
Ein Wort noch zu Krzysztof Pastor, dem Künstlerischen Direktor des Polnischen Nationalballetts. Unter seiner Leitung hat die Kompanie enorm an Bedeutung gewonnen. Nicht zuletzt, weil er als international geschätzter und erfahrender Choreograf seine Erfahrungen und Ideen bislang einbringen konnte und kann – so einschränkend muss man das ja leider sehen angesichts derzeitiger kulturpolitischer Umtriebe im Nachbarland. Auch in Dresden dürfte er in guter Erinnerung sein mit seiner Choreografie zum Adagio aus Anton Bruckners Siebter Sinfonie in Es-Dur in gedanklicher Korrespondenz zu Zeilen aus Rilkes »Duineser Elegie«, in dem Ballettabend »Bruckner, Mahler und Schönberg«. Das war am 7. Juli 1999. Die Erinnerungen sind da, bis heute.
Auf der Rückfahrt mit dem Warszawa-Express fiel es mir schwer, die Fahrt wie sonst zu genießen. Zu stark waren die Eindrücke. Es war kaum möglich gewesen, durch die Warschauer Altstadt zu schlendern, wie erhofft in den herrlichen Cafés zu sitzen. Schon am Anreisetag war das Zentrum so gut wie abgeriegelt, Ausnahmezustand. In Voraussicht hatte ich schon einen Weg gesucht, um an den Absperrungen vorbei vom Hotel ins Theater zu gelangen. Am Abend war es dann nur mit enormen Umwegen möglich. Der Rückweg wurde noch gespenstischer.
Immerhin, der entscheidende Eindruck ist bis heute wach: die Kunst, in diesem Falle der Tanz und die Musik, kann Zeichen setzen. Wer aufmerksam ist, kann sie deuten. Nicht zuletzt vielleicht auch als Hoffnungszeichen im Kontext aller anderen Signale, bevor diese zum Menetekel werden und das, was sie ankündigen, unumkehrbar ist.