Die ersten Interviewanfragen von »Musik in Dresden« waren von ihr wegen „immenser Arbeitsbelastung“ abgelehnt worden. Man solle bitte in drei Monaten (!) noch einmal nachfragen. Judith Schinker wollte nach ihrer überraschenden Wahl und dem empörten Rücktritt des Hochschulrates wohl erst einmal Luft holen, sich sammeln und die über diesem Wahlergebnis tief gespaltene Hochschule durch gute Arbeitsergebnisse wieder einen. Allein: die Ergebnisse blieben nach drei Monaten aus. Die guten Entwicklungen, die Judith Schinker heute in einer nur Minuten vor ihrer drohenden Abwahl hastig von ihrem persönlichen E-Mail-Account versandten Pressemeldung noch einmal gesondert herausstellte, gehen nach der Einschätzung vieler Hochschulangehöriger auf die Arbeit ihres Vorgängers Ekkehard Klemm zurück – beziehungsweise waren einfach an der Tagesordnung, wie etwa „die Bestellung einer neuen künstlerischen Direktorin des Sächsischen Landesgymnasiums“. Überhaupt passt die E-Mail heute morgen ins Bild ihrer Amtsführung. So knapp und an der Grenze zur Unhöflichkeit unpersönlich wie diese Mail blieb ihr Kontakt zu den Medien insgesamt, während ihrer gesamten zweieinhalbjährigen Amtszeit. Eine Hochschule, die international die besten Studenten gewinnen und herausragende Lehrkräfte binden will, kann und darf so einfach nicht geführt werden.
Überraschend vor einem Jahr ein ausführliches halbstündiges Interview in der Reihe „MDR Kultur trifft…“ Ich saß vor dem Radio und traute meinen Ohren nicht. Eine sympathische Stimme, überwiegend klug abgewogene Statements einer insgesamt gut informierten und faktensicheren Rektorin, gut, manchmal etwas inhaltsleer und phrasenhaft… Aber bei den „schwierigen“ Fragen druckste sie dann doch, und dann bröckelte das Bild immer mehr und mehr, bis dem Moderator auch nur noch vorsichtige Oberflächlichkeiten einfielen, um ja keine neue Tretmine zum Explodieren zu bringen. Auf ihre Bewerbung nach Trier sprach er sie immerhin an, zeigte sich „fast entsetzt“ über diesen Karriereschritt. Judith Schinker konnte darauf keine überzeugende Antwort geben. Sie argumentierte, an der Hochschule habe es Fehlstellen und Krankmeldungen auf Schlüsselstellen gegeben, sie selbst habe „sehr, sehr viel gearbeitet, es war aber keine Besserung zu sehen“. Das klang wie eine Kapitulation. Frühmorgens habe sie oft „anderthalb Stunden lang“ To-do-Listen für den jeweiligen Tag geschrieben. Das klang nahezu verzweifelt. Alles, was jetzt noch zu retten sei: die Senatskollegen bemühten sich angeblich, „Bahnen zu finden, wie wir in Gespräche kommen können.“ Wer da genau zuhörte, wusste: die Rektorin hatte sich mit dieser Bewerbung endgültig isoliert. Später sagte sie noch, es sei an einer Hochschule für eine Rektorin „ganz, ganz wichtig“, dass man Raum für Experimente schaffe, aber auch „fürs Fehlermachen“. Alle Studierenden eine indes eine Leidenschaft für die Musik: „da glänzen die Augen, da kommen die roten Bäckchen, wenn sie gemeinsam musizieren…“ Ja, welchen Kontakt sie zu den Studierenden denn überhaupt habe? „Im Rahmen… im Nach-Bologna kommen sie ganz viel mit Verbesserung von Strukturen inner- oder von den Studiendokumenten, weil sich manche Sachen sozusagen so nicht studieren lassen, oder es gibt Schwierigkeiten, und dann sind wir als Hochschule gefragt, die Studiendokumente gemeinsam mit Lehrenden und Studierenden und den Verwaltungsmitarbeiterinnen zu verändern.“ Das lag Welten entfernt von der Beziehung, die Ekkehard Klemm mit vielen „seiner“ Studenten über die Jahre seiner Amtszeit aufgebaut hatte: er kannte die musikalischen Anforderungen, dirigierte Konzerte, schickte seine Studenten zu Wettbewerben, schrieb Programmnotizen und Nachrufe, sprach, wann immer es ging, mit Politikern, trieb Gelder ein und setzte sich für das Fortkommen der Hochschule ein. Klemm war umfassend informiert und vernetzt. Man traf ihn abends im Konzert und las spät in der Nacht oft noch epische Kommentare zum Weltgeschehen auf seinem Blog. Die Studenten schienen zu ihm eine gute, eine sehr gute Beziehung zu haben. Bis zu jenem 18. Mai 2015.
Wer heute lamentiert, das Amt und die Musikhochschule seien durch Judith Schinkers Rücktritt beschädigt, der ist schlecht informiert. Das Amt und die Musikhochschule waren vom Zeitpunkt ihrer Wahl an beschädigt. Die Aufgabe ihres Nachfolgers oder ihrer Nachfolgerin wird daher nicht vordergründig sein, „die Interessen künstlerischer, pädagogischer und wissenschaftlicher Studiengänge ausgewogen zu berücksichtigen“, wie Judith Schinker das in ihrer Pressemeldung formuliert – eine Aufgabe jedenfalls, an der sie scheiterte. Der Auftrag wird sein, die Dresdner Musikhochschule nach einem personellen Total-Desaster, einer „Implosion„, wie es die Sächsische Zeitung formulierte, durch fleißige, unermüdliche Überzeugungsarbeit nach innen und nach außen wieder zu festigen, auf einen erfolgreichen, zukunftssicheren Kurs zu trimmen und das Kapitel „Judith Schinker“ damit irgendwann hinter sich zu lassen.