„Ich war zehn, als meine Karriere begann. Von diesem Moment an wurde ich dazu erzogen, die Kontrolle über meine Figur, meinen Körper, meine Anatomie, aber auch über meine Seele abzugeben.“
„In der Tanzwelt sind sexuelle Belästigungen und sexueller Missbrauch in verschiedenen Formen quasi an der Tagesordnung, jedenfalls viel häufiger anzutreffen als in anderen künstlerischen Berufen. Du musst tun, was dir der Vorgesetzte sagt. Die Werte, aber auch die Bewertungen von Tänzern haben sich in der Tanzwelt nämlich radikal verändert. Vor zwanzig oder dreißig Jahren waren es charismatische Tänzer mit einer starken Bühnenpräsenz, die am meisten geschätzt waren. Sie tanzten nicht nur, sie machten ihren Tanz zum Ritual, sie setzten das Publikum einer „Katharsis“ aus. Sie galten als Künstler und waren gleichberechtigte Partner eines Choreografen im Entstehungsprozess eines Werkes. Heutzutage bevorzugen die meisten Kompanieleiter Tänzer, die ihnen ohne Diskussion gehorchen. Da das darstellerische Talent meist im Einklang mit einer eigenen Meinung steht, ist es nun eher zum Nachteil geworden. Dieser hohe künstlerische Wert hat seine Bedeutung verloren – und das Ergebnis ist, dass jeder leicht ersetzbar ist.“
„Lebenslange Verträge? Das war einmal. In Deutschland sind heutzutage Einjahresverträge üblich, bei gesunkenen Einkommen. Tag für Tag, während Kompanien geschlossen und Kollegen entlassen werden, fragst du dich: werde ich verlängert oder nicht? In Italien gibt es von vierzehn Kompanien noch fünf. Weltweit sind Tänzerinnen und Tänzer auf Jobsuche. Und es gibt die Nachwuchsprogramme: die jungen Nachwuchstänzer tun dasselbe wie die Mitglieder der Kompanie, aber für viel, viel weniger Geld. Diese Veränderungen machen dich unglaublich verletzlich und erinnern dich daran, dass du immer und jederzeit ersetzt werden kannst.“
„Alle Tänzer denken: ‚Ich liebe meinen Job, ich will auftreten! Und als Tänzer werde ich alles tun, um meinen Job zu schützen, zu behalten. Dafür ist es manchmal nötig, Machtmissbrauch zu akzeptieren, die Opferrolle zu akzeptieren.‘ Wie ich schon sagte: wir sind so erzogen. Als Tänzer hast du zehn, zwanzig Jahre, dann ist deine Karriere vorbei. Alles läuft im Zeitraffer ab – und es ist in der Natur dieses hierarchischen Systems, dass es quasi jeden entweder zum Opfer oder zum Täter werden lässt. Sexuelle Belästigungen sind dabei nur eine Form des Machtmissbrauchs innerhalb des Systems. Nachdem ich mehrfach Opfer war, habe ich lange gebraucht, um mir das überhaupt vergegenwärtigen zu können, um es aussprechen zu können. Und das Schlimmste ist: wenn du auch nur versuchst, weder Opfer noch Täter zu sein in diesem System, wenn du diese Probleme reflektierst, erkennt ‚das System‘, dass irgend etwas nicht stimmt – und stößt dich aus.“
„Es gibt keine Präventionsprogramme gegen diese Belästigungen; als Tänzer bist du dagegen nicht gefeit. Dass sich in der Tanzwelt niemand gegen das System auflehnt, ist für mich kein Wunder. Auch, wenn das System dich nicht schützt: wenn du dich anpasst, kommst du weiter. Wie die Sache beginnt? Nicht, wie du denkst: nein, es beginnt, wenn dir jemand einen Gefallen tut. Wenn er dich bevorzugt. Schritt für Schritt wächst du damit weiter in das Abhängigkeitsverhältnis hinein. Und es gibt kein Protokoll dafür, wie man diese negative Abhängigkeit verhindern kann, keinen Verhaltenskodex, der klarmacht, welches Benehmen unerwünscht ist. Ein anzüglicher Witz, eine Berührung in dieser und jener Art. Das muss klar benannt werden! Und wenn so etwas passiert, sollte festgelegt sein: wenn du es meldest, wirst du dadurch keine negativen Konsequenzen erfahren. Das Management darf dir keinen Strick aus deiner Ehrlichkeit drehen. Erst dann wird sich in der Tanzwelt etwas ändern.“
Aufzeichnungen: Martin Morgenstern und Boris Gruhl