Ganz Dresden spricht darüber, was passiert, wenn man einen schreibenden Ex-Mediziner neben einen Schwerintellektuellen setzt, damit sie über gesellschaftliche Schieflagen diskutieren. Was dabei herauskommt? Eine zumindest intellektuelle Schieflage. Wie das aus medizinischer Sicht zu beurteilen ist? Für Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Apotheker.
Literarisch war es – erwartungsgemäß – unergiebig. Der Abend mitsamt seinen präsidialen Nachwehen strahlte eine unüberhörbare Disharmonie aus. Auch keine Überraschung. Immerhin hat der Kulturpalast nach Philharmonie- und Orgelkonzerten, nach Roland Kaiser, Till Brönner und Goran Bregovic mal wieder gezeigt, welch breites Spektrum er aushalten kann. War das bei seinem Estraden-Vorgänger anders? Nein. Der nahm neben guter Musik auch so ziemlich alles hin, von der Jugendweihe bis zum Kirchentag. Und blieb gelassen.
Vielleicht ist das genau die Eigenschaft, die uns heute so sehr fehlt? Tellkamp & Grünbein mitsamt ihrem jeweiligen Publikum haben’s bewiesen: der gesellschaftliche Diskurs gerät in dunkle Sackgassen, sobald wir keine andere Meinung mehr gelten lassen, ohne sie sogleich zu interpretieren und in Schubladen einzusortieren. Gelassenheit hat nichts mit Egal-Sein zu tun, benötigt aber eine gewisse Portion Aufgeklärtheit als dringende Voraussetzung.
Und wo finden wir die? Kaum bei ‚Türmern‘, eher schon in einer teils unergründlichen Lyrik, die unsere Sinne schärft und die Empathie anregt, sowieso in einer Dramatik, die exemplarisch Lebenssituationen vorführt und menschliches Verhalten immer wieder auf den Prüfstand stellt. Was haben die beiden Wortkämpfer nicht schon entrücktes und bewundernswertes über die Künste und die Künstler Dresdens und Helleraus geschrieben! Aber Kunst spielte – ich wiederhole mich – an diesem Abend quasi keine Rolle.
Die schönste Utopie eines gemeinsamen Daseins im humanistischen Sinn eines wirklichen Miteinanders hat noch immer Ludwig van Beethoven komponiert: „Alle Menschen werden Brüder“ ist ein klingendes Fanal aus Wort und Ton. Seine Neunte Sinfonie mit der »Ode an die Freude« dürfte in aller Welt verstanden werden, unabhängig von religiösen und sonstwie ideologisch indoktrinierten Schranken. Apropos Schiller: Der stürmische Dränger soll doch in Leipzig Gohlis / in Dresden Loschwitz (bitte ankreuzen) seine »Ode an die Freude« verfasst haben. Darüber streiten und darum beneiden sich die beiden Städte bis heute. Ein überlieferter Fakt ist allerdings, dass der geborene Württemberger durchaus ein Freund guter Weine gewesen sein soll. Nun gibt es ausgerechnet in der Leipziger Schillerstraße eine kleine Restauration mit dem Namen des Dichters und Dramatikers. Betrieben wird das Etablissement angeblich vom Sohn eines Imams, der in Leipzig noch eine weitere Lokalität sein eigen nennt. Die Speisekarte klingt interessant und macht Appetit, soweit sie sich auf das Essen bezieht. Bier- und Weinfreunde allerdings werden darauf hingewiesen, dass es hier aus religiösen Gründen keine alkoholischen Getränke mehr gibt. Eine Bereicherung oder ein Verlust? Gar eine Verdrängung? Niemand sollte hier mehr „feuertrunken“ sein dürfen? – Monsieur Houellebecq, übernehmen Sie. Wir rufen derweil durstig dem Wirt zu, doch noch einmal beim Namensgeber nachzulesen:
Freude sprudelt in Pokalen, in der Traube goldnem Blut
trinken Sanftmut Kannibalen, Die Verzweiflung Heldenmut –
Brüder fliegt von euren Sitzen, wenn der volle Römer kraißt,
Laßt den Schaum zum Himmel sprützen: Dieses Glas dem guten Geist.
Ja, der gute Geist. Man könnte denken, er habe wohl so einige in Dresden verlassen. Trinken wir zu wenig? Prosten wir uns gegenseitig zu wenig zu? „Es braucht das Gespräch zwischen vernünftigen Menschen“, bittet Grünbein heute in der „Süddeutschen Zeitung“, „– sonst geht alles den Bach hinunter“ (…) „Man hat mich gefragt, wo an diesem denkwürdigen Abend in Dresden die Dichtung geblieben war. Ich weiß es nicht, ich habe aber gespürt, wie sie sich schon nach den ersten Minuten durch die Saaltüren davonschlich.“ Vielleicht suchte sie einfach was Anständiges zu trinken.