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Tanzen, bis es dampft

»100°C« heißt der neue dreiteilige Ballettabend des Semperoper Ballett. »Musik in Dresden« hat im Vorfeld dazu Ballettdirektor Aaron S. Watkin befragt – und den international gefragten Choreografen Hofesh Shechter aus Israel, der mit »Corpse de Ballet« erstmals eine Choreografie mit einer deutschen Kompanie kreiert.

Alle Fotos: Ian Whalen

Ein guter Anlass, Ballettdirektor Aaron S. Watkin danach zu befragen, wie sich dieser Ballettabend in sein künstlerisches Konzept fügt. Er sagt dazu: „In den vergangenen 12 Jahren unter meiner Leitung hat die Company 77 Produktionen zur Premiere gebracht, darunter 24 Uraufführungen und ein all-umfassendes, außergewöhnlich vielfältiges Repertoire aufgebaut. Heute ist es mein erklärtes Ziel, neue Choreografen für unser Ensemble und Publikum zu gewinnen mit dem Schwerpunkt auf Uraufführungen, die speziell für unsere Tänzer kreiert werden. »100°C« stellt Dresden zwei neue Gesichter, doch international bereits renommierte Choreografen vor: Justin Peck und Hofesh Shechter. Die beiden könnten in ihrem Tanzvokabular nicht gegensätzlicher sein. Peck, ganz der Neo-Klassik verpflichtet, präsentiert mit »Heatscape« auf Bohuslav Martinůs Erstes Klavierkonzert sein untrügliches Gespür für Musikalität, die einzigartige Komplexität seiner choreografischen Handschrift und seine Fähigkeit, mit großem Ensemble zu arbeiten. Das ist poetisch, berührende und höchst beschwingend. Das ganze wie stets wundervoll begleitet von der Sächsischen Staatskapelle. 

Shechter ist ein moderner Expressionist und »Corpse de Ballet« eine überwältigend eindringliche Landschaft roher Emotionen, die sich durch eine Myriade verschiedener Bilder von aufgeladenen Ekstasen bis hin zu vollkommener Stille und Intimität schlängelt. Dabei ergründet Shechter die Idee des Seins – nicht nur in physischer Bewegung, sondern in tiefgründiger innerlicher Bewegung und Reflexion. 

Jiří Kyliàn ist einer der angesehensten Choreografen der Jetztzeit und an unserem Haus bereits gut bekannt. Ich glaube fest daran, dass neben Einführung neuer Choreografen auch der Aufbau von Beziehungen und deren Kontinuität zu ausgewählten Künstlern von großer Bedeutung ist. Erst in der vergangenen Spielzeit haben wir Kyliàns »Vergessenes Land« zur Premiere gebracht, eine seiner frühen Arbeiten. Mit »Gods und Dogs« stellen wir nun eine seiner neueren Arbeiten vor und illustrieren damit auch die Entwicklung seiner choreografischen Handschrift über die Spanne der rund 40 Jahre seines Schaffens. »Gods und Dogs« ist ein abstraktes Erzählstück, das neben Dirk Haubrichs moderner Komposition mit der energetischen Musik von Beethovens Streichquintett arbeitet. Kyliàns packende choreografische Ästhetik verbindet sich mit nahezu kinematographischer Beleuchtung und Projektionen, gestattet uns in eine Welt unsagbarer Schönheit hinüber zu schreiten.“

Dass ein so gefragter Choreograf wie Hofesh Shechter für eine Uraufführung mit dem Semperoper Ballett gewonnen werden konnte, spricht natürlich für diese Kompanie und bestätigt, was Aaron S. Watkin sagt. Shechter wurde noch vor wenigen Tagen in Paris gefeiert für die Erstaufführung seiner Choreografie „The Art of Not Looking Back“ beim Ballett der Pariser Oper. Man könne sich ja nicht sattsehen an Shechters Bewegungen, „und die kinästhetische Versuchung, die von ihm ausgeht“, so die Ballettkritikerin Wiebke Hüster in der F.A.Z. zu seiner Kreation. Für sie ist diese Versuchung „vielleicht größer als bei allen anderen Choreografen seiner Generation“. Wiebke Hüster nennt ihn ein „israelisches Kraftwerk“ und schreibt, „man möchte immer einer von denen da auf der Bühne sein, wenn man seine Tänze sieht, man möchte nicht im Parkett stillsitzen und ausgeschlossen sein von der Hitze, die da oben herrscht.“

Gute Überleitung zur Frage an Hofesh Shechter, wie heiß es denn nun beim neuen Ballettabend, speziell bei seiner Uraufführung »Corpse de Ballet«, u.a. zu Musik von Johann Strauss, werden kann?

Zunächst betont Shechter, dass ihm, „längst das hohe künstlerische Niveau des Semperoper Ballett und seine außerordentliche Professionalität, mit der es geleitet wird“, empfohlen wurde. Und er sagt zur Arbeit in Dresden: „Wie erwartet mache ich nun selbst hier eine absolut großartige Erfahrung. Zum einen sind die Tänzerinnen und Tänzer unglaublich talentiert und auf bewundernswerte Weise ihrer Arbeit ergeben – sie arbeiten hart daran, das Bewegungsmaterial zu entschlüsseln und sich anzueignen und sind mit vollem Herzen bei der Arbeit. Überhaupt ist das gesamte Team hier, angefangen von der Technik, über das Lichtdesign bis hin zum Bürostab wunderbar professionell und jeder einfach exzellent in seinem Job. Ich spüre hier einen geradezu kreativen flow, was für einen Künstler ja immer ein Vergnügen ist.“

Und es fällt ja immer wieder auf, wie stark Choreografinnen und Choreografen aus Israel international erfolgreich sind. Wie kommt das, wie ist es möglich, dass ein so kleines Land gerade für den Tanz so viele außergewöhnliche Talente hervorbringt? Dazu die durch eigene Erfahrungen begründete Frage an Hofesh Shechter: „Sie kommen aus Israel, Sie haben in der Batsheva Dance Company getanzt, bevor Sie Ihren Weg als Choreograf begonnen haben. Kann es sein, dass in Ihrem Heimatland der Tanz eine ganz besondere Bedeutung hat? Denn derzeit erlebt man ja immer wieder aufregende Begegnungen mit Choreografinnen und Choreografen, die aus Israel kommen. »Mega Israel« hieß die stürmisch gefeierte Eröffnungspremiere des letzten Colours Festivals in Stuttgart, auch mit Arbeiten von Ihnen… Ich könnte jetzt etliche Namen nennen, spontan denke ich natürlich an Ohad Naharin, an Itzig Galili, an Sharon Eyal & Gai Behar, an Yaron Shamir, oder mit besonderem Vergnügen an den witzigen Newcomer Nadav Zelner…“

H.S.: „Israel ist in der Tat mit einer ziemlich starken Tanzszene gesegnet. Ich denke, gerade die Existenz des Volkstanzes als Teil seiner Kultur in Verbindung mit der sehr starken Wirkung Ohad Naharins auf die Israelische Tanzszene haben Israel zu einem äußerst fruchtbaren Land für junge Künstler gemacht. Israel ist ein komplexer Ort, und der Tanz bietet ein gutes Ventil, um komplexe Gefühle auszudrücken … aber so genau weiß ich es auch nicht. Ich habe das nicht studiert und bin kein Gelehrter in diesem Fach.“

Und um komplexe Fragen geht es auch in seiner Choreografie »Corpse de Ballet« – kein Schreibfehler, auch wenn man zunächst denkt, das müsste doch Corps de Ballet heißen – auf die Frage, wie heiß es denn werde, antwortet er zunächst mit Verweis auf den Titel seiner Choreografie, man könne im Titel »Corpse de Ballet« ja ein kleines Wortspiel mit der Idee des Todes und ebenso die Idee vom Ballett entdecken. Shechter verweist darauf, dass der Tanz, das Ballett je entstanden sei, um Herrschende zu unterhalten, während Menschen in den von ihnen angezettelten Kriegen auf den Schlachtfeldern ihr Leben ließen: „aber eher so, als wäre es ein spassiger Kuss… halt nicht mehr.“

Also eine Voraussage, wie heiß es wirklich wird, will Hofesh Shechter nicht geben, aber vielleicht wird es heiß, „in dem Sinne, dass ja der Siedepunkt bei 100° C liegt, also der Moment, wenn sich etwas verändert, nämlich Wasser nicht länger flüssig bleibt, sondern zu Dampf wird… Man sagt ja, der Moment des Zusammenbruchs und der Krise kann letztendlich der sein, in dem sich am Ende etwas verändert“, und fügt mit verschmitzter Ironie hinzu, „aber das sind vielleicht etwas zu große Hoffnungen an einen Abend, der im Grunde genommen guten alten Mittelklasse-Tanz in der Oper bietet, oder ist es nicht so?!“


Am 2. Juni 2018 wird das Semperoper Ballett mit dem Europäischen Kulturpreis TAURUS geehrt. Die Verleihung findet im Rahmen der Ballettpremiere statt, sechs Tage vor der offiziellen Veranstaltung in der Frauenkirche Dresden. Die Sächsische Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst, Dr. Eva-Maria Stange, wird die Laudatio halten. Mit dem TAURUS für das Semperoper Ballett würdigen die Organisatoren des Preises die herausragenden Leistungen der Company, die mit seiner vollendeten schöpferischen Ausdruckskraft in der Umsetzung meisterhafter Choreografien die eindrucksvolle Verbindung von Tradition und Moderne wahrt und in seiner Internationalität Brücken zwischen den unterschiedlichen Kulturnationen bildet. »Das Semperoper Ballett schafft mit jedem einzelnen Auftritt unvergessliche hochkarätige künstlerische Erlebnisse. Und es bietet mit seiner internationalen Zusammensetzung von Tänzerinnen und Tänzern ein wunderbares Beispiel dafür, welche Höchstleistungen möglich sind, wenn Menschen unterschiedlichster Herkunft, aber mit gleicher Passion und Meisterschaft zusammenarbeiten. Ich gratuliere dem Ensemble zur Ehrung mit dem Europäischen Kulturpreis TAURUS«, erklärt Sachsens Kunstministerin Dr. Eva-Maria Stange.

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