Vom 14. bis zum 18. August fand in St. Petersburg die 20. Ausgabe eines vor 27 begründeten Festivals statt, welches es sich zur Aufgabe macht, „die führenden russischen Choreografen in St. Petersburg zusammenbringen, um Ideen, Pläne und Perspektiven zu generieren, neue Wege aufzuzeigen, um Entwicklung und Interaktion im zeitgenössischen Tanz neu zu beleben“, so Festivaldirektor Vadim Kasparov zum diesjährigen Festival »Open Look 2018«. Im Gegensatz zu ähnlichen Veranstaltungen in Moskau, Jekaterinenburg oder Kazan, arbeite man hier nach Aussage des Festivalleiters „ohne jegliche Unterstützung von irgendeiner Regierungsseite“. Kein Grund aufzugeben für Vadim Kasparov: „wir wollen das ändern und darüber hinaus neue Impulse für die Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes in Russland aussenden“, betont er mit Nachdruck.
Ich wäre gern dabei gewesen. Leider konnte ich die freundliche, aber leider zu kurzfristige Einladung nicht annehmen, nach St. Petersburg zu reisen, mir Eindrücke zu verschaffen und darüber zu berichten. Daher habe ich Dieter Topp von der Presseagentur PPS, der als Journalist und Festivalberater in Sachen Musik, Tanz und Theater, zumeist unter soziokulturellem Aspekt im östlichen Europa und Südost Asien tätig ist, um seine Eindrücke gebeten, um sie hier wiederzugeben. Dieter Topp hat den Versuch unternommen, die vom Festivalleiter angekündigten, weit gesteckten Ziele zu ergründen, dies zusammen mit vielen angereisten, professionellen Besuchern, zumeist aus den unterschiedlichen Bereichen des Tanzes in Russland.
Sein Fazit, bestätigt in den Gesprächen mit den russischen Kolleginnen und Kollegen sowie einem Journalisten aus Italien: „Einen Überblick über den Status quo des zeitgenössischen Tanzes in Russland vermag man sich anhand der Namen und Institutionen, sowie deren Stücke rasch und gut zu verschaffen. Da hat die Kanon Dance Company aus St. Petersburg, Ausrichterin des Festivals, gute Arbeit geleistet.“
Dieter Topp berichtet: „Mit dem Creative Workshop des erst jüngst verstorbenen Dmitriy Brusnikin (Moskau) und der Sasha Kukin Company (St. Petersburg) bieten zwei russische Pioniere und Kompanien des Genres ihre Standpunkte aus den 80/90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts dar, die für eine historische Einordnung geeignet, beim durchweg jungen Publikum recht gut ankommen.“ (Anmerkung: Dmitriy Brusnikin, 1957 in Potsdam geboren, wenige Tage vor Beginn des St. Petersburger Festivals, am 9. August dieses Jahres verstorben, hat sich vor allem einen Namen als Film und TV Regisseur gemacht.)
Auffällig ist für die Beobachter, auch für Dieter Topp, dass fast alle beim Festival auftretenden Tänzerinnen und Tänzer aus Russland eine klassische Ausbildungen absolviert haben, was besonders dann im Vordergrund der künstlerischen Leistungen stehe, wenn es gilt Handlungsmotive zu interpretieren oder Handlungen zu gestalten, Geschichten zu erzählen. Aber, so Dieter Topp, „ein Bezug zu modernem Tanztheater ist nicht zu übersehen, Contemporary Dance nach dem Verständnis westlicher Kompanien (Niederlande, Deutschland) erscheint dabei lediglich angedeutet und bricht nur hier und dort durch, etwa in der Arbeit »Forest« von Brusnikin oder in »Gravitation and War« der Sasha Kukin Dance Company aus St. Petersburg. Bei „Cardboard“, des Theaters für zeitgenössischen Tanz aus Tscheljabinsk, »In The Mode Of Waiting For Godot« des Theater Ballet Moscow und in »The Storm« des Ksenkia Mikheeva Dance Projekts aus St. Petersburg werden die alten Strukturen aufgebrochen, zeitgenössische Bewegungselemente treten hier stärker in den Vordergrund. Die Gastspiele des Koreanischen Nationalballetts für zeitgenössischen Tanz und der renommierten Vertigo Dance Company aus Israel verführen für Dieter Topp zwar das Publikum mit atemberaubenden Vorstellungen in fremde Welten ihrer Mythologien, „bleiben aber perfekte Tour-Programme voll exotischer Musik und Farben.“
Ganz andere Eindrücke vermitteln sich für ihn mit dem Konzept von Katrin Reshetnikova in ihrer Eins-zu-eins-Präsentation für jeweils 10 Besucher und 10 Akteure, »Co-Touch«, bei der die Besucher wie in einem Blinddate im dunklen Raum bewegt und berührt werden, auch akustisch in verschiedene Situationen virtueller Welten geführt werden. Ähnliches empfindet Dieter Topp bei der Choreografie »Alif« von Marsel Nuriev aus Kazan, „wo durch die Körpersprache von Nurbek Batulla nach authentischer Tartarenmusik vernachlässigte Schichten einer Kultur entwickelt werden, einer Poesie, die verloren ging, die die heutige Gesellschaft bereits nicht mehr in der Lage ist zu verstehen oder zu deuten. »Body Mantra« von Alexey Torgunakov des Russisch-Polnischen Theatre Rozbarak besticht mit Körperbewusstseinstechnik und der Intention, in speziellem Maß unendliches Bewusstsein zu eröffnen. Die Solovorstellung »Warten auf Godot« von Valeria Kasparova in der Choreografie von Ksenia Mikheeva und »Takeover« der Zhukova-Schwestern aus St. Petersburg zeugen von erstklassiger Ausbildung, dem Training zu körperlicher und gestalterischer Perfektion, gleichen doch eher dem Abschluss einer Meisterklasse, in welcher fast alles gelehrt und gelernt wird, wobei die Aspekte körperlicher, sinnlicher Aspekte fehlen oder bewusst außer Acht gelassen werden.“
Für Dieter Topp sind dies Beispiele für seine Beobachtungen und Eindrücke, dass beim Fehlen, körperlicher, sinnlicher Ausstrahlung die Gefahr besteht, dass Tänzerinnen und Tänzer, „zu einem mechanischen, fremd bestimmten Instrument, zu Marionetten der Choreographie werden, denen die persönliche Seele und ureigene Sexualität fehlen.“ Er betont natürlich auch, dass hier im kritischen Dialog eine gewisse Vorsicht angebracht sei, um Möglichkeiten konstruktiver, kollegialer Kritik nicht zu verhindern.
Zwei Besonderheiten stechen für den Beobachter heraus: „Die niederländische Meyer-Chaffaud Kompanie eruiert, wozu jeder Tänzer fähig ist und wie er dies transportieren kann, um die physische Grenze zwischen Bühne und Zuschauer zu überwinden. Bei »Soul # 2 Performers« gelingt dies unter reger, positiv enthusiastischer Anteilnahme aus dem Zuschauerraum. Der Tanz eröffnet einen Einblick in die Seele der Tänzer. Körperliches steht neben tänzerischer Perfektion an erster Stelle. Und das zeigt seine Wirkung. Tänzer und Zuschauer empfinden Kongruenz, wenn der Fokus auf die innere Welt eines jeden Tänzers gelegt wird. Der Tanzstil der Kompanie ist ursprünglich und poetisch, groovig und stets sehr persönlich.“
Zum Höhepunkt des Festivals wurde für Dieter Topp das Stück »in-neutrino« der gastgebenden Kanon Dance Company, hier begibt sich für ihn zum ersten und einzigen Mal eine Choreografie ganz auf das Feld des zeitgenössischen Tanzes. Der Choreograf Oleg Stepanov sagt zu seiner Kreation: „Wie kann ich das schwer Fassbare oder auch Anfällige grenzwertiger Bedingungen bei andauernd vorherrschender Änderung stoppen, wie kann die Zeit in einer dieser Sekunden angehalten werden? Der Raum verharrt im Moment, alles friert ein, offenbart seine Zerbrechlichkeit und erlaubt zugleich, ihn anzuschauen, zu berühren und in einem ganz kleinen Detail zu erinnern. Diesen flüchtigen Augenblick der Stille fange ich ein. Beim Ausatmen ist bereits wieder alles anders und nichts ist mehr dasselbe wie zuvor“. Und Stepanov, so Dieter Topp, scheue sich nicht, die Körperlichkeit seiner Tänzer in den Ablauf der Show selbstverständlich einzubinden. In dieser „Inszenierung“ wird deutlich, „dass zeitgenössischer Tanz sich aus der Vielfalt heraus definiert, ein Kompositum, Mixtur von Technik und Ästhetik, ein Crossover zwischen den Künsten mit offenen Strukturen, die sich bewusst auch von Zeitströmungen der Moderne absetzen können.“
Viel Neues, Zeitgenössisches, Experimentelles zeige das Festival im Rückblick zwar nicht, aber es gebe schon einen Überblick zum zeitgenössischen Tanz in Russland und mache vor allem Hoffnungen darauf, dass es den starken Impulsgebern dieser Szene mit eben ihren speziellen Facetten gelingen möge, ihre eigenen, vor allem authentischen Impulse zu setzen, künftig vielleicht auch nicht nur in Russland.
Zurück zur Ausgangsfrage, lohnt der Blick nach Osten? Ich finde schon, der Bericht hat mich neugierig gemacht, die nächste Chance werde ich sicher nutzen. Oder wird das künftig gar nicht nötig sein? Hatte nicht die neue Intendantin des Europäischen Zentrums der Künste, Hellerau, Carena Schlewitt angekündigt, künftig auch intensiver den Blick nach Osten zu richten? Und St. Petersburg ist ja immerhin auch eine der Partnerstädte von Dresden, da sollte doch auch mal was zu holen sein.
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Boris Gruhl