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Für eine Welt ohne Grenzen

So aktuell waren sie selten in ihrer zwanzigjährigen Geschichte. Während sich ein Strom von Tausenden Menschen durch den Süden von Mexiko auf die US-Grenze zubewegt, werden unweigerlich Erinnerungen an das musikalische Projekt »Tear Down This Wall« geweckt. Damit gastierten die Dresdner Sinfoniker im vorigen Jahr unter gewaltigem Medieninteresse direkt an der stählern gezäunten Grenze, die die Städte Tijuana und San Diego voneinander trennt. Die Twitter-Trompete aus Washington bläst währenddessen stupide ins immergleiche Horn und hat ernsthaft die Absicht, vom Atlantik bis zum Pazifik eine neun Meter hohe Mauer zu errichten. Die Armut soll natürlich draußen bleiben, dabei ist sie doch in „Gottes eigenem Land“ längst weit verbreitet!

Gegen wachsende Armut, gegen Unrecht und Ausgrenzung sind die Dresdner Sinfoniker bereits vor zwanzig Jahren angetreten und haben immer wieder mit musikalisch und inhaltlich spektakulärem Engagement für Aufmerksamkeit gesorgt. Zunächst haben moderne Klassiker wie John Adams und Steve Reich das Interesse der Sinfoniker geweckt, wenig später kamen die Inspirationen von Komponisten wie Gija Kancheli und Awet Terterjan. Stets ist es die Lust am Neuen, möglichst Unentdeckten, die rockige und jazzige Elemente mit klassischen Klängen verbunden hat, und stets war der Reiz des musikalischen Grenzüberschreitens mit dem Versuch gepaart, die Grenzen zwischen den Menschen aufzuheben. Musik also mit Anspruch und Botschaft. Mit derartigen Projekten haben die Dresdner Sinfoniker inzwischen quer durch Europa sowie in Nahost und Mittelamerika für Aufsehen gesorgt und wurden dafür beispielsweise mit dem UNESCO-Sonderpreis „Welthorizont“ geehrt. Bereits das Gründungskonzert 1998 hat es bis in die Tagesthemen geschafft. »Mein Herz brennt« – ein Projekt zur Musik von Rammstein  – wurde 2003 zum erfolgreichen Durchbruch.

Höchst spektakuläre Kooperationen wie die »Hochhaussinfonie« von 2006 mit den Pet Shop Boys sowie – zum zehnjährigen Jubiläum – das erste Ferndirigat der Welt 2008 mit Michael Helmrath folgten. Die blutige Krise zwischen Israel und Palästina wurde 2013 mit der »Symphony for Palestine« konnotiert, das bis heute von der offiziellen Politik der Türkei geleugnete Massaker an Tausenden Armeniern wurde zwei Jahre später – 100 Jahre nach dem bereits von Franz Werfel eindrücklich beschriebenen Genozid – in dem vielbeachteten deutsch-türkisch-armenischen Konzertprojekt »[aghet] – [ağıt]« thematisiert. Auch der momentan ausgetragene Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, den kaum wer mit Krieg zu bezeichnen wagt, wurde von den Sinfonikern in ihrem Projekt »Panzerkreuzer Potemkin« aufgegriffen. In der Zusammenarbeit mit dem Komponisten, Gitarristen und Produzenten Marc Sinan wurden aus Aserbaidschan, Kasachstan und Usbekistan stammende Musiker für eine hochaktuelle Version des zentralasiatischen Mythos’ um »Dede Korkut« integriert hatte. Nicht zuletzt geriet auch das 2010 uraufgeführt Stück »Hasretim«, als anatolische Reise bezeichnet, zur musikalisch sehnsuchtsvollen Suche nach kultureller Identität.

Hinter all diesen Aktionen und Projekten der aus Musikerinnen und Musikern namhafter europäischer Orchester bestehenden Dresdner Sinfoniker, steht das gemeinsame Erleben eines europäischen Zusammenwachsens, woraus die Hoffnung auf eine Welt ohne Grenzen gereift ist. Die Ursprungsidee dieses ungemein innovativen und engagierten Klangkörpers geht allerdings auf eine Bierlaune zurück: Nach einer Aufführung von Engelbert Humperdincks Oper »Hänsel und Gretel« auf der Felsenbühne Rathen in der Sächsischen Schweiz philosophierten die Musiker Tom Goetze, Sven Helbig und Markus Rindt in einem Biergarten über das Für und Wider, in einem festen Orchester beschäftigt zu sein. Irgendwer soll dann gemeint haben, doch miteinander eines zu gründen. So sind Musikerinnen und Musiker aus namhaften deutschen und europäischen Orchestern zusammengekommen, die durch den Geist der Musik Menschen berühren und die Welt verändern wollten. Und mit dieser Konsequenz werden die Dresdner Sinfoniker nun auch ihr Jubiläumskonzert zum zwanzigjährigen Bestehen gestalten. Musikerpersönlichkeiten wie Frank Zappa, Andreas Gundlach und Enrico Chapela werden darin mit ihren Werken als Dreigestirn leuchten und zu hören sein.

Zappas Musik hat die Dresdner Sinfoniker schon zu Anfangszeiten fasziniert; erinnert sei nur an die Frank-Zappa-Nacht im Großen Haus des Staatsschauspiels, bei der das Multitalent Tom Quaas im Arrangement von Zappas einstigem Assistenten Ali N. Askin in einer speziellen Umsetzung von »The Yellow Shark« mitgewirkt hat. Nun aber wird Zappas Musik von den Sinfonikern im Zusammenwirken mit Peter Till und seinem Universal Druckluftorchester zu erleben sein, ein nicht nur rhythmisches Risiko, das – einmal mehr mit Zappas letzter großen Hinterlassenschaft »The Yellow Shark« von 1993 – alle Beteiligten vor immense Herausforderungen stellt.

Ein Risiko ganz anderer Art wird der Komponist und Tastenvirtuose Andreas Gundlach eingehen, denn der hat sein Stück »Quartüürium« ursprünglich für sich am Synthesizer und für den ‚klassischen‘ Pianisten Andreas Boyde am Flügel komponiert. Nun aber muss die Uraufführung von den Dresdner Sinfonikern und Gundlach allein bestritten werden, da Boyde (der zu dem Orchester in enger Verbindung steht) wegen eines familiären Trauerfalls sein Mitwirken kurzfristig absagen musste. Als drittes Stück des Geburtstagsabends steht die konzertante Uraufführung der Rockoper »El Resplandor de los Disidentes« des mexikanischen Komponisten Enrico Chapela an, die so ganz und gar die Traditionslinien der Sinfoniker aufgreifen wird. Schon die innovative Musiksprache dieses aufstrebenden Künstlers, der darin folkloristische Elemente mit klassischer Moderne verbindet, unterstreicht diese Nähe; mehr aber noch besteht sich in der Positionierung einer humanistischen Haltung. Der 1974 in Mexiko-Stadt geborene Chapela hat in London und Paris Komposition, Gitarre sowie Musikwissenschaft studiert. Für diese Oper greift er auf die Protestbewegungen von 1968 zurück und erinnert an das Massaker vom 2. Oktober 1968, bei dem auf der Plaza de las Tres Culturas in Mexiko-Stadt Hunderte Studenten ermordet wurden. Dem Mut und den Opfern des als Massaker von Tlatelolco (so nach dem Stadtteil benannt, in dem diese Verbrechen stattfanden) hat Chapela mit »El Resplandor de los Disidentes« (etwa »Der Glanz der Dissidenten«) nachträglich ein Denkmal gesetzt.

Das Werk des vielfach ausgezeichneten IRCAM-Absolventen knüpft an das zum zehnjährigen Bestehen der Sinfoniker verfasste »Noctámbulos« für Rocktrio und Sinfonieorchester an, das vor zehn Jahren im Dresdner Kulturpalast uraufgeführt worden ist. In dessen Fortsetzung dürfte auch das Jubiläumskonzert ein klares Bekenntnis für die zeitgenössische Musik sowie eine unerbittliche Zeitzeugenschaft werden, um Grenzen (nicht nur zwischen musikalischen Genres) friedlich zu überwinden.

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