Vor knapp zehn Jahren gab es in der amerikanischen Tanzwelt eine Diskussion, ausgelöst durch die Frage des Dance Magazine: „Are We Overdosing Balanchine?“ In der Washington Post war zuvor die Überlastigkeit von Balanchine-Balletten beklagt worden. Damals schilderte der Ballettkritiker Horst Koegler, wie diese Debatte das Für und Wieder beschreibe. Interessant in der Diskussion die damalige Meinung von Karen Kain, Chefin des National Ballet of Canada, die, so Koegler, zweifellos zu den führenden Persönlichkeiten der nordamerikanischen Szene gehöre. Sie verweist auf die Reichhaltigkeit des Repertoires der damals von ihr geleiteten Kompanie und auf die lange Tradition an dramatischen Balletten, Klassikern und zeitgenössischen Werken, die man habe. Und sie betont, „wir haben Künstler, die tanzen und schauspielern können – kein Zweifel. Wir tanzen auch Balanchine, weil er Meisterwerke schuf. Wenn man nicht Balanchine gut tanzen kann, kann man sich nicht wirklich eine Ballettkompanie nennen.“
Das muss Aaron S. Watkin ähnlich sehen. Er hat inzwischen etliche wichtige Arbeiten von Balanchine in Dresden einstudieren lassen. Oft fügten sich in mehrteiligen Abenden die nachfolgenden Choreografien auf diesem so herrlich schwingenden Fundament zu einem Ganzen, in dem der Tanz mit seinen so unterschiedlichen Stilen und auch Anliegen einen Horizont der Erwartungen nach dem anderen durchbrach. Zuletzt im Abend »Vergessenes Land«, in dem auf Balanchines Meisterwerk der Lebensfreude, »Sinfonie in C« zum Jugendwerk von Georges Bizet dann Jiří Kyliáns Kreation »Vergessenes Land« von 1981 zur Musik der »Sinfonia da Requiem« von Benjamin Britten folgte, mit diesen nachdenklichen Tönen und Bilder suchender Menschen in den melancholischen Bildlandschaften eines Edvard Munch. So schloss sich am Ende zwar kein Kreis, aber es erschloss sich mit William Forsythes Meisterwerk »Quintett« von 1993 doch so etwas wie ein Lebenskreislauf des Tanzes, bei dem am Ende auch angesichts persönlicher Tragik und Trauer, die Forsythe in diesem Stück verarbeitet, doch die lebensbejahende Kraft des Beginns nicht verloren ist.
Stellt sich die Frage, ob Aaron S. Watkin mit dem neuen Abend ein solches Konzept weiter führen wollte? Unter dem Motto »Labyrinth« stellt er auch ein Meisterwerk von Balanchine zur Musik von Paul Hindemith, »Die vier Temperamente« uraufgeführt 1946 in New York. Und man kann sich auch nach mehr als 70 Jahren an diesem Werk erfreuen, zumal wenn Hindemiths Musik dermaßen frisch und anmutig, bei tänzerisch, rhythmischer Gestaltung erklingt wie hier unter der Leitung von Nathan Fifield mit den Streichern der Sächsischen Staatskapelle und dem Solisten Alfredo Miglionico am Klavier. Und auch nach dem tänzerisch noch etwas verhalten wirkendem Thema bricht sich mit dem ersten Solo von Michael Tucker im ersten, der Melancholie gewidmeten Satz, dieses tänzerische Grundvertrauen in die Kraft der geführten Bewegung seine Bahnen.
Eine Steigerung gibt es mit Svetlana Gileva und Denis Veginy in ihren auch von leichtem Humor grundierten Varianten der Kunst des Pas de deux. Von wegen „phlegmatisch“ – alles andere als das, die Solovariationen im dritten Teil von Joseph Ray und dann wird’s mit Alice Mariani cholerisch, eben nicht, wie’s im Buche steht, frei von Klischees, mit einem wunderbaren Augenzwinkern. Das ganze in der hier so elegant wirkenden Trainingskleidung auf leerer Bühne vor dem Hintergrund der in himmlischem Blau ausgeleuchteten Oper wird zu einer getanzten Hommage, eben auf die unterschiedlichen Temperamente, die sich dann doch in symmetrische Visionen fügen.
Komisch, dass darauf ein Stück der amerikanischen Tänzerin und Choreografin Martha Graham mit dem Titel »Errand into the Maze« (nur ein Jahr später ebenfalls in New York uraufgeführt) so altbacken wirkt! Da kann auch die rhythmisch interessante Musik von Gian Carlo Menotti mit bevorzugtem Schlagwerk und raffinierten Orchesterpassagen nicht viel möglich machen: die Choreografie Grahams ist einfach zu naiv in ihren strengen, kantigen Vorgaben, bei denen besonders der Körper der Tänzerin in ein unglaubwürdig wirkendes Korsett gezwängt wird. Und das, wo sich doch die Amazonen des Modernen Tanzes auf ihre Fahnen geschrieben hatten, den Tanz vom Korsett des Balletts zu befreien. Immerhin, Grahams Kreation führt wirklich in ein Labyrinth, das des mythischen Minotaurus, in dem sich Ariadne gegen das stiernackige Ungeheuer behauptet, weil sie eben klug ihren „Ariadnefaden“ zu nutzen weiß. Duosi Zhu und Christian Bauch, vielfach in anderen Kreationen ganz unterschiedlicher Stilistik und Ansprüche überzeugend, können hier einfach nicht ankommen gegen die reichlich naiv wirkenden choreografischen Vorgaben.
Nicht ganz unproblematisch erscheint dann auch die Auswahl der Choreografie »Black Milk« von Ohad Naharin aus dem Jahre 1984 zur Musik für Marimbafon von Paul Smadbeck, zunächst für fünf Tänzerinnen kreiert, später aber, so auch in Dresden, für fünf Tänzer eingerichtet. Zur schwingenden Melodik, die das Geschehen wie ein Klangteppich unterlegt, erlebt man so etwas wie ein tänzerisches Ritual einer Gruppe im Gegensatz zu einem Einzelnen. Statt schwarzer Milch gibt es schwarzen Schlamm in einem Blechbehälter, mit dem alle ihre nackten Oberkörper leicht anschmutzen. Einer der Tänzer nur wird im gleichen Blecheimer das klare Wasser finden, seinen Körper reinigen und seinen Weg gehen. Natürlich haben die Tänzer Julian Amir Lacey, Skyler Maxey-Wert, Francesco Pio Ricci, Huston Thomas und Jón Vallejo die nötige Kraft und Energie, hier zu begeistern und damit auch über die gewisse Unverbindlichkeit des Stückes hinaus zu wachsen. Der kann man auch nicht begegnen, wenn man wie im Programmheft der Dresdner Inszenierung auf einen Zusammenhang zu Celans »Todesfuge« verweisen möchte. Das in der benannten Fugenform wiederkehrende Motiv der „Schwarzen Milch“ in Paul Celans Gedicht lässt sich kaum mit möglichen Motiven des Choreografen verbinden, die er als »Black Milk« bezeichnet.
Am Ende des nun doch vielleicht eher ungewollt labyrinthisch anmutenden Abends eine Uraufführung. Das spricht für die Risikobereitschaft von Aaron S. Watkin, noch dazu wenn er diese einem jungen Tänzer der Kompanie anvertraut, der sich auf diesem Gebiet zwar bewährt hat, aber das blieb bisher eher Insidern bekannt. »Songs for a Siren« heißt die Choreografie von Joseph Hernandez zu einer Auftragskomposition von Barrett Anspach. Wie stark der junge Komponist mit bei spürbaren Interesse am Tanz seinem Komponistenkollegen Igor Stravinsky verbunden ist, kann man nicht überhören. Und wie sehr der junge Choreograf daran interessiert ist, sich mit individuellen Unfreiheiten, vielleicht sogar Gefangenschaften in abgeschlossenen Ansichtsgebäuden zu beschäftigen, die sich dann szenisch in einer ausweglosen Situation am Grunde einer übergroßen, trichterartigen Grabesgrube abspielen, ist nicht zu übersehen. Yannick Cosso und Jordan Pallagès haben diese Grube gebaut und die Kostüme für die zehn Tänzerinnen und Tänzer entworfen, die sich am Rand dieses Abgrundes oder in der Grube bewegen.
Welchen Signalen sie gefolgt sind, welchen Sirenen sie auf den Leim gegangen sind, bleibt am Ende ein Geheimnis. Ob die geheimnisvolle Lady in Grün, getanzt von Svetlana Gileva, oder die beiden so gut wie unkenntlichen Typen in Schwarz, Sangeun Lee und Christian Bauch, sie angelockt, verführt oder gar über den Rand der Grube gezogen haben und sie jetzt bewachen, das bleibt ebenso ein Geheimnis wie die Frage danach, wie sich die sieben kraftvollen Menschen aus diesem existenziellen Loch, in das sie geraten sind, wieder befreien können. Dem kräftigen Schuhwerk nach sind die alle auf der Wanderschaft; Abstürze gehören dazu, in Fallen zu geraten, ebenso wie an die falschen Freunde oder Freundinnen, auch. Insofern bleibt es wohl der durch eigene Erfahrungen beflügelten Fantasie der Zuschauerinnen und Zuschauer überlassen, die Wege aus der Grube zu erkunden.
So präsentiert dieser labyrinthische Ballett- und Tanzabend am Ende zwar nicht den idealen Ausweg, aber Anregungen und Anreize genug, um immer wieder mit Interesse und Lust dabei zu sein, wenn die nächste Einladung erfolgt, sich im Tanz durch die Labyrinthe des Lebens und der Emotionen führen zu lassen.