Wir schreiben den Dezember 2018. Ganz Dresden ist im Stadionkonzertfieber… Ganz Dresden? Nein! Ein aus unbeugsamen Liebhabern der alten Musik bestehendes Ensemble hört nicht auf, der Kommerzialisierung Widerstand zu leisten. Die Rede ist vom Collegium 1704. Eine verschworene Hörergemeinschaft findet sich in der Annenkirche zusammen, wann immer der Dirigent Václav Luks ruft; und die Konzertreihe der »Musikbrücke Prag – Dresden« ist ein Garant für außergewöhnliche Konzerterlebnisse, die man nicht vergisst. Tagelang, manchmal wochenlang reicht so eine musikalische Vitaminspritze der Prager, trägt einen durch die stressige Vorweihnachtszeit, durch den Frühling, über den Sommer. Wer seinen Lieben etwas schenken möchte, das sie überrascht und sie aller paar Wochen erfreut: dem „Mäzenen-Kreis“ des Collegium 1704 kann man ab 40 Euro pro Jahr beitreten; Mäzene treffen die Musiker, genießen Vorzugsreservierungen, sogar ein eigener Wein ist für die noblen Spender aufgelegt.
Für das diesjährige Dresdner Weihnachtskonzert hatte sich das Collegium mit dem Nederlands Kamerkoor und seinem Leiter Peter Dijkstra zusammengetan, auf den Pulten stand das Bachsche »Weihnachtsoratorium«. Aber welch ein krasser Kontrast zu den jährlich genossenen Dresdner Aufführungen in Frauen- und Kreuzkirche! Ein quickes Originalklang-Ensemble. Naturtrompeten und -hörner, historische Pauken, eine Theorbe (Stephan Rath), Oboen und Oboe da caccia, wie einer barocken Wirtshausszene aus der Gemäldegalerie entstiegen. Statt einer Altstimme übernahm ein berückend anmutig singender Countertenor (Maarten Engeltjes) die Zion-Arie. Und bei all diesen Finessen ein wandelbarer Klang, ein lebendiges Musizieren, dass es eine Lust war. „Ich steh an deiner Krippen hier“ – wie der Niederländische Kammerchor diesen Choral sang, meinte man die Sänger im Kerzenschein vor der Krippe nicht stehen, nein: knien zu sehen. Ja, der Bass Thomas Oliemans katapultierte sich mit voller Opernstimme hin und wieder etwas aus diesem beschaulichen Kreis; er scheint nur ein Ersatz gewesen zu sein für Tobias Berndt, der sich mit diesen Musikern zuhause fühlt und auch auf der kleinen Tournee dabei ist, die das Collegium diese Woche nach Lochem, Utrecht, Leiden, Naarden und Amsterdam führt. (Dann ist hoffentlich auch der isländische Tenor Benedikt Kristjánsson wieder voll auf der Höhe, der den Evangelisten in Dresden in vollendeter Diktion, sehr zurückhaltend im Ausdruck, aber mit stupender Technik sang; aber man merkte doch hin und wieder, dass ihn eine Erkältung plagte.) Die nächsten Konzerte der Musikbrücke-Saison? Am 1.1. 2019 steigt das Neujahrskonzert, im Februar erklingen »Serenaden«, im März Händels »Israel in Ägypten« und zu Ostern die Matthäuspassion.
Auch das Sächsische Vocalensemble nutzt den wunderbaren Raumklang der Annenkirche gern für Konzerte; Ende November etwa erklang unter Matthias Jungs unprätentiöser Leitung das Mozart-Requiem in Kombination mit Ignaz Ritter von Seyfrieds »Libera me«, so wie das Werk bei Beethovens Beerdigung musiziert wurde. In der Radeberger Kirche hat das Vocalensemble im Januar 2017 mit den Solisten Heidi Maria Taubert, David Erler, Andreas Post und Cornelius Uhle eine Werkschau von Giovanni Alberto Ristori aufgenommen, der unter Hasse Vizekapellmeister am Dresdner Hof war. Rechtzeitig zu Weihnachten erscheint die CD nun bei cpo – und öffnet ein kleines Hörfenster in die zweite Reihe hinter Hasse und Zelenka. Lohnenswert auch für Dresden-Kenner, liebe Geschenkejäger!
Wers lieber live mag: das traditionelle Silvesterkonzert des Sächsischen Vocalensembles (31.12.2018, 20 Uhr Annenkirche) mit Werken von Georg Friedrich Händel steht unter dem beziehungsreichen Titel »Händel und seine Königinnen«. Die Huldigungsmusiken für die britische Königin Anne und für Caroline von Ansbach, die spätere Prinzessin von Wales, gehören zu den ersten geistlichen Vokalwerken Händels, welche in England entstanden, nachdem er für immer seinen Lebensmittelpunkt in London gefunden hatte. Daneben erklingt das Oratorium »Salomon«. Auch diese Karten (19/14 Euro) passen natürlich unter den Weihnachtsbaum.
Vier weitere CDs seien noch erwähnt, die uns die Vorweihnachtszeit versüßt haben, die aber auch am Heiligabend noch ihren süßen Klang verströmen und definitiv erstklassiges Gabentischmaterial für liebe Grüße aus Dresden an engere und weitere Verwandte im Land darstellen (bei Opus 61 finden Sie sicherlich weitere Anregungen). Also der Reihe nach: Ludwig Güttler erfreut seine Fans mit »Stille Nacht, Heilige Nacht«. Aufgenommen hat der Trompeter das alte, liebe Lied dieses Jahr bei sommerlichen Temperaturen im österreichischen Zwettl. Zwei Bearbeitungen rahmen ein besinnliches Potpourri älterer Einspielungen, die bis 1989 zurückreichen, einige davon bereits mehrmals veröffentlicht. So kann sich Siri beispielsweise nicht entscheiden, ob das »Konzert für zwei Corni da caccia, Streicher und Bc, RV 539« (am zweiten Horn: Kurt Sandau) nun der Platte »Virtuose Konzerte für Corno da caccia« (1993, Berlin Classics), der 1988 bei Capriccio veröffentlichten LP »Ludwig Güttler – Concerti Corno da Caccia«, der Reference-Gold-Scheibe »Konzerte für Corno da caccia« (2010) oder der 1998 ebenfalls bei Berlin Classics erschienenen Zusammenschau »Die goldene Trompete – Ausgewählte Kostbarkeiten« entstammt. Egal, Siri! „Denk im Sommer an den Winter“ – mit dieser weisen Bauernregel eröffnet Karsten Blüthgen das Programmheft, und man kann es Güttler nicht verdenken, dass er sie befolgt.
Bauernschläue aber auch beim erwähnten Label, hat es doch dieses Jahr die weihnachtliche Hitplatte schlechthin als CD wiederauferstehen lassen. »Peter Schreier singt Weihnachtslieder« – und auf dem Innencover prangt die abgeläbberte Eterna-Plattenhülle. Selbstverständlich ist die „legendäre Aufnahme der bekanntesten und schönsten Weihnachtslieder mit Peter Schreier“ durch einen „aufwändigen (sic) Restaurationsprozess der Original-Bänder“ zu neuem Glanz gekommen, nun auch für den internationalen Markt: „This perfect music for an unforgettable Christmas!“, tönt der PR-Chef von der Plattenrückseite. Dass die Aufnahme 1974, also vor fast einem halben Jahrhundert (!), in der Lukaskirche unter Hans-Joachim Rotzsch entstand, wird dem geneigten CD-Käufer verschwiegen. Ist ja auch egal. Christ ist erschienen, uns zu versühnen!
Richtig frisch und munter kommt dagegen die neue Einspielung des Philharmonischen Kinderchors Dresden daher. Sie hat das Zeug zum neuen Klassiker! Gekonnt mischt Gunter Berger Hits wie „Sind die Lichter angezündet“ (Hans Sandig vertonte das Gedicht von Erika Engel, vor über sechzig Jahren erschien es erstmals auf Platte) und „Süßer die Glocken nie klingen“ mit überraschenden Beiträgen wie „Jul, jul, strålande jul“ (aus den 1920er Jahren) oder „Dizdizka zeruan“ der 1973 geborenen Komponistin Eva Ugalde; der Organist Denny Wilke steuert weitere Kostbarkeiten (etwa – ausgerechnet, da das Original ja gerade verstummt ist – „Carillon de Westminster“) bei. Wenn nur die überspitzt frechen, manchmal fast abgehackt artikulierten Endreime der Chormädchen nicht wären! Die verstören das weihnachtsselige Ohr bisweilen.
Und auch die neun Beethoven-Sinfonien hat die Dresdner Philharmonie noch schnell vorm großen Jahresend-Geschenketrubel herausgebracht; bei einem gemeinsamen Pressetermin stellten Frauke Roth und Gunter Berger die beiden CDs kürzlich gemeinsam vor (ungenannt blieb dabei noch ein weiterer Neuzugang, der gerade noch rechtzeitig zum Fest fertiggeworden ist: Uwe Steimle hat mit einem Blechbläser-Ensemble der Philharmonie ebenfalls eine CD herausgebracht). Über Sanderlings Beethoven-Bild hat Alexander Keuk in den letzten Monaten mehrfach geschrieben. Dass die CD-Box mit allen neun Sinfonien (erschienen bei Sony Classical) nun für weniger als 25 Euro verkauft wird, für Abonnenten sogar noch ein reduzierter Vorzugspreis gilt – darf man das unklug nennen? Die Philharmonie hätte diese Grabbeltisch-Mentalität doch gar nicht nötig.
In den Weihnachtskonzerten der Philharmonie gehts dieses Jahr übrigens russisch zu: neben Auszügen aus Tschaikowskis Ballett »Der Nussknacker« steht Musik aus der Oper »Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch« von Rimski-Korsakow sowie Prokofjews Zweites Klavierkonzert auf dem Programm. Am Pult steht am 23. und 25. Dezember Dmitrij Kitajenko.
Zum Abschluss noch eine Empfehlung, wenn Sie Ihre Lieben demnächst ins Konzert ausführen wollen und vielleicht einen entsprechenden Gutschein schenken mögen: Vom 11. bis 15. Januar 2019 finden in Görlitz und Zgorzelec die »Internationalen Messiaen-Tage« statt. Es gibt verschiedene Konzerte, Führungen und Vorträge; zu erwerben gibt es Karten für das gesamte Festival oder separat für einzelne Höhepunkte (etwa: »Naturklang-Klangnatur – Sinfoniekonzert mit der Sinfonietta Dresden«, »Fremd bin ich eingezogen« – ein Kammerkonzert mit dem innovativen Asambura Ensemble oder das alljährliche Festivalhighlight, das »Quatuor pour la fin du temps«).