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Gold, Weihrauch und Herrnhuter Sterne

Die übliche Aufstellung bei den Weihnachtsoratorien der letzten Jahre: die vier Solisten singen vom Altarrand, der große Chor ist zweigeteilt um eine zentral positionierte Truhenorgel herum (Foto: M.M.)

„Gehts zu Weihnachten auch mal ohne VW?“, fragt ein vom PR-Sprech des Kreuzchorauftritts genervter Facebook-Nutzer. Nein, das geht natürlich nicht. Die Verträge sehen nun mal vor, dass die Autofirma für ihr Sponsoring pausenlos erwähnt wird. Und wenn unter dem Nachruf auf Theo Adam (zwei kurze Sätze) die Hashtags #Kreuzchor #DresdnerKreuzchor #Chor #Choir #DerChor #TheChoir #einstueckvondir #sogehtsaechsisch #simplysaxony prangen, dient auch das der höheren Sache: #DerChor möchte damit eine möglichst weitreichende Durchdringung aller sozialen Kanäle erreichen, seine Marke stärken, sein Image verbreiten. Und verbreitern.

Denn längst sind nicht mehr nur die kulturellen Elfenbein-Türmer die Zielgruppe des Kreuzchors. Kreuzkantor Kreile betont oft, man werde ja von Steuern bezahlt und müsse also auch alle steuerzahlenden Dresdner erreichen – auch jene, die nicht den Weg in die Kreuzkirche finden. So singen die Knaben also nicht nur für ihre Sponsoren, für Messegäste, sondern auch in der Straßenbahn, im Hauptbahnhof, vor Fußballspielen, sind auch jährlich öffentlichkeitswirksam bei der Oldtimer-Rallye ihres Hauptsponsors dabei. Und werden überdies von morgens bis abends von einem Fernsehteam des Mitteldeutschen Rundfunks begleitet. „Engel, Bengel und Musik“ heißt die mehrteilige Doku-Soap, die die aufgenommenen Filmchen in ein – nun ja, Seifenoper-Format gießt und sich seit Jahren großer Beliebtheit erfreut. Man muss diese Dinge wohl einfach in unserer Zeit als Begleiterscheinung ertragen; „der Kreuzchor hat schon ganz andere Sachen überstanden“, schrieb ich vor zehn Jahren über dieses Fernsehformat.

Es ist aber doch erstaunlich, wie hemdsärmelig die neuen Folgen immer noch daherkommen. Die Regisseurin Jana von Rautenberg hat neben dem Kreuzchor keine weiteren Klassik-Themen in ihrem Köcher; stattdessen stehen da Sendungen wie „Panda, Gorilla & Co.“ (372 Folgen!); „Knut, das Eisbärbaby“, „Bitte nicht füttern – Promis im Tierpflegertest“ und „Die Charité – Auf Leben und Tod“. Liegt es am Kostendruck, dass offenbar kein einziger der an den Aufnahmeplanungen und dem Schnitt beteiligten Mitarbeiter von klassischer Musik und dem ganzen Betrieb um sie herum auch nur etwas mehr als der Durchschnittszuschauer des MDR versteht? Wie anders ist es zu erklären, warum beispielsweise die Dresdner Philharmonie, die den Kreuzchor seit sechzig Jahren bei den meisten Auftritten unterstützt, in der 26. Folge als „Staatskapelle Dresden“ anmoderiert wird? Und warum werden die kurzen Anspieler und Teaser in den sozialen Medien, die – wenn ich richtig verstehe – von denselben Drehteams hergestellt werden, mit synthetisch klingenden Klassikjingles abgemischt? „Man fragt sich doch immer wieder, warum diese Werbefilme mit einer derartigen, billigen Pseudo-Weihnachts-Musik unterlegt sind, wo sie doch eigentlich Werbung machen sollen für den wunderbaren und beseelten Gesang der Kruzianer, der uns ins Stadion locken soll“, kommentierte eine Facebook-Nutzerin verärgert. Keine Reaktion des Chors oder des Senders. Vermutlich wäre es zu teuer, hochwertige, GEMA-gelistete Musik unter die Filmchen zu legen, oder der Nutzung steht eine komplizierte Rechtelage entgegen. Welchen Eindruck aber hinterlassen diese Filme, die nun jahrelang im Internet zu sehen sein werden, bei der kleineren Gruppe der Musikkenner? Ist diese Zielgruppe es denn gar nicht mehr wert, umworben zu werden – weil sie bisher sowieso treu und brav in jedes der Konzerte kamen?

Je mehr Zuhörer, desto besser

Ungesagt bleibt meist in dieser Diskussion, dass sich der Kreuzchor mit der neuen Marketingstrategie endgültig dem Quotendenken seiner Sponsoring-Partner unterwirft. Je mehr Publikum der Chor anspricht, je mehr Zuhörer kommen, desto besser – das ist die Perspektive der Geldgeber. Da bekommt die „Musik-in-Dresden“-Redaktion allen Ernstes die Einladung von Holger Zastrows Werbeagentur zu einem Fototermin unter dem Titel „GEHEIMNIS WIRD GELÜFTET“, bei dem die wärmende Unterwäsche der Kruzianer vorgestellt wird. Und tatsächlich, die meisten Medien spielen klaglos mit. In den Tagen nach diesem Pressegespräch erscheinen Beiträge u.a. in BILD, auf tag24.de, auf focus.de, in der Sächsischen Zeitung, in den Dresdner Neuesten Nachrichten und im MDR („Spezielle Winterkleidung für die Kruzianer“, in der Mediathek momentan nicht mehr auffindbar).

Wir, die Redaktionen, balancieren ja auf demselben Balken. Die DNN verriet jüngst, dass ein Artikel über die Kleider des Semperopernballs der meistgelesene des Jahres 2018 gewesen sei. Die naheliegende Frage also: wie können die inhaltlichen Prioritäten eines Mediums dieses breite Interesse in Zukunft noch zielgerichteter befriedigen, und wie können inhaltlicher Anspruch und Popularität vereint werden? Denn der Blick auf die Breite ist ja recht – und endet doch manchmal billig. Man müsste darauf vertrauen, dass auch Redaktionen und Autoren, die inhaltlich auf interessante Nischen-Themen setzen, welche vielleicht nicht zeitgleich über alle anderen medialen Kanäle gespielt und gespült werden, gute, ja vielleicht am Ende sogar die besseren Überlebenschancen haben als diejenigen, die immer zuerst auf die Klickzahlen schielen.

Es wäre stattdessen zu fragen, wie der Kreuzchor momentan eigentlich klingt, und welchen künstlerischen Anspruch er an sich und sein Publikum hat. Da wurden nämlich beim vierten und jüngsten Stadionkonzert nach viel öffentlicher Häme über die seichten Lied-Arrangements der Vorjahre durchaus die richtigen Weichen gestellt. Ja, auch 2018 erklang „Sind die Lichter angezündet“ wieder in derselben sämigen Fassung. Nach einem lächerlich aufgebrezelten „Joy to the world“, das das 2017er Stadionkonzert eingeleitet hatte, startete der Chor ein Jahr später mit „Tochter Zion“ – auch hier ein mit Streicherteppich und Bläserexplosionen völlig überladenes Arrangement. Ja, die Video-Einspieler zu Beginn (inklusive einer Erinnerung an den Selbstmord von Daniel Küblböck) waren in ihrer Banalität und Tränendrüsigkeit schwer zu ertragen. Aber insgesamt wurde dann flüssiger und stimmiger musiziert, gab es deutlich weniger Fremdschäm-Momente. Und zwischendurch stand der Chorklang tatsächlich im Mittelpunkt, besser abgemischt als in den Vorjahren und mit einem teilweise durchaus anspruchsvoll arrangierten Repertoire (Camilla Nylund!).

„Einer der besten Chöre überhaupt“

Fassen wir die eigenen Erlebnisse und die Rezensionen der Kollegen aus der zurückliegenden Saison zusammen, so hinkt der Chor momentan dem eigenen Anspruch hinterher und kann die über alle medialen Kanäle geweckten Erwartungen künstlerisch nicht immer einlösen. „Ein Blick auf das Maß wäre vonnöten“, schrieb Alexander Keuk schon im August, „im nächsten Schritt dann der Blick auf die Tiefe, respektive die Ehrlichkeit einer Aufführung.“ Wenn man überhaupt versucht, eine langfristige Entwicklung an den Klangschnipseln aus dem Kreuzchor-TV-Kanal abzulesen, dann vielleicht diese: Der Chorklang ist gegenüber dem Jubiläumsjahr leicht geschärft, ist im Timbre wieder etwas prägnanter und schlicht sauberer geworden. Aber: „Die Championsleague der Musik“, „einer der besten Chöre überhaupt“ – keines der Etiketten, die die PR-Leute dem Kreuzchor aufgeklebt haben, stimmt. Zu oft wackeln Einsätze, sind Konsonanten nicht gut abgesprochen, variieren die Tonlängen unkontrolliert, muss der Kreuzkantor die Tempi zwischen Chor und Orchester vorsichtig „moderieren“, wirkt das Ergebnis stilistisch unausgegoren. Das merkt zumindest der Teil des Dresdner Publikums, der Vergleiche ziehen kann. Der in jüngster Zeit vielleicht auch den Dresdner Kammerchor, den Nederlands Kamerkoor, die Regensburger, den Lettischen Rundfunkchor, den Knabenchor Hannover oder schlicht und einfach die Dresdner Kapellknaben gehört hat. Der vielleicht heimlich nach Leipzig gepilgert ist, wo am 16. Dezember 2018 ein Weihnachtsoratorium „der Vollkommenheit ziemlich nah“ kam (Peter Korfmacher, LVZ), weil die musikalische Rhetorik des Thomaskantors „ohne billige Effekte auskommt und ohne eitle Selbstdarstellung“ – touché! Oder wenn er eben einfach nur ältere Schallplattenaufnahmen des Kreuzchors zum Vergleich heranzieht.

Dagegen fiel der Eindruck etwa der Aufführung des zweiten Teils des Bachschen »Weihnachtsoratoriums« am Freitag in der Kreuzkirche etwas ab. Der große Chor und das Orchester (ja, die Philharmonie – allerdings tatsächlich mit Kapell-Aushilfe Holger Grohs, der neben Heike Janicke ein schön ausgeziertes Violinsolo beisteuerte) wurden sich in den Tempi von „Ehre sei dir, Gott, gesungen“ und „Herr, wenn die stolzen Feinde schnauben“ erst nach einer Einschwingphase einig. Ein bisschen unglücklich war die Auswahl der Solisten: Miriam Alexandra und Matthias Weichert sangen beide zu zurückhaltend für den großen Kirchenraum, und Tobias Hunger, der an seiner ehemaligen „Arbeitsstelle“ schon 2012, 2015 und 2017 wunderbare Evangelisten gab, war stimmlich leicht indisponiert und nahm sich deshalb in der fünften und sechsten Kantate vorsichtig zurück.

Wie hat sich die musikalische Idee seit 1997 entwickelt?

Insgesamt fehlt mir momentan einfach eine musikalische Vision, wie Bachsche Oratorien in dieser Kirche, mit der gut dokumentierten Aufführungsgeschichte von Kreuzchor und Philharmonie, idealerweise klingen könnten. Über zwanzig Jahre hatte Roderich Kreile jetzt Zeit, den Chorklang stilistisch zu formen und weiterzuentwickeln, wenn natürlich auch mit wechselnden Kruzianergenerationen. Ist der weiche, schwingende, manchmal jedoch zu schwerfällig-dunkle Klang des Chores, ist die Orchestergröße, ist die Aufteilung zwischen einer nur sehr zurückhaltend eingesetzten Truhenorgel und Cembalo (zentriert zwischen den beiden Chorteilen), ist die Festlegung auf Sopran-Alt-Tenor-Bass vom Altarrand aus plus Kruzianer-Echo aus dem Rückschiff wirklich der Weisheit letzter Schluss? Gerade mit dem Standardrepertoire, das jedes Jahr wieder erklingt, könnte der Kreuzkantor doch verschiedene musikalische Ausdeutungen wagen, vielleicht auch einmal den Chor reduzieren, A-cappella-Choräle einfügen, den Engel von der Kanzel und das Echo von der Orgelempore singen lassen; einfach einmal zeigen, dass „das WO“ in der Kreuzkirche keine Mumie ist, die jedes Jahr kurz vor Weihnachten vorsichtig ausgewickelt und zu Epiphanias wieder eingesargt wird. Sondern ein lebendiges Werk, das jedes Jahr eine Auferstehung in einer anderen Welt feiert, an dem der Chor wächst und der die Beziehungen zum Dresdner Publikum, das ja zu den drei WO-Aufführungen vor Weihnachten sowieso kommt, immer wieder neu knüpft.

Die Kruzianer müssen momentan gegen einen nicht einlösbaren Nimbus ansingen und werden von augenscheinlich nicht sonderlich klassikaffinen Marketing-Fachleuten gepusht und zu einer Massenkompatibilität getrieben, die weder mit dem künstlerischen Anspruch früherer Jahrzehnte vereinbar ist noch mit der insgesamt deutlich gestiegenen Qualität und Vielfalt seiner „Konkurrenten“. Das hat der Dresdner Kreuzchor, das hat sein Publikum einfach nicht verdient.

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