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Ein Europäer von Weltrang

In der griechischen Mythologie ist das Wort Nestor durchaus zwiespältig zu sehen. Wer da drei Menschenleben lang ausgehalten hat, konnte eben nicht nur altersweise und versöhnlich gewirkt haben, sondern war – laut Homers »Ilias« – zuvor auch ungestüm, durchaus trinkfreudig und aus heutig aufgeklärter Sicht viel zu kriegerisch.

Im richtigen Leben gilt Nestor als Ehrenbezeichnung und greift wohl vor allem die Altersweisheit der so gepriesenen Persönlichkeiten auf. Ein Nestor ist reich an Erfahrung, zählt zu den Ältesten in seinem Fach und dürfte dank seines Überblicks friedensstiftend, vermittelnd und vorbildhaft wirken. Zu dumm nur, dass die wahren Nestoren der Gegenwart ein solches Kompliment eher ablehnen würden, denn es widerspricht geradezu ihrer arbeitsamen Grundhaltung. – Wie wohl Bernard Haitink darauf reagieren würde?

Foto: PR, Clive Barda

Der Maestro begeht heute seinen 90. Geburtstag, galt schon in jungen Jahren als äußerst reif, als ebenso gründlich wie bedächtig, vor allem – und dies alles hat er sich bis heute bewahrt – als bescheidener Meister im Dienst der Musik. „Handwerker unter Handwerkern“, das wollte er sein, Sachwalter von Komposition und Botschaft. Eine schier endlose Reihe von Einspielungen und Aufnahmen legt Zeugnis von diesem langen Dirigentenleben ab, das aktuell natürlich im Zeichen des runden Geburtstages steht. Der in Amsterdam geborene Musiker, der ursprünglich als Geiger gestartet war und nunmehr seit langem in der Nähe von Luzern zu Hause ist, plant für den laufenden Monat Konzerte in London und Paris; die kommende Saison soll einem Innehalten verpflichtet sein, Haitink hat sich ganz offiziell ein Sabbatical vorgenommen. Schließlich währt allein seine Dirigentenkarriere bereits gut 65 Jahre.

Lediglich zwei davon hat er als Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden verbracht, als Amtsnachfolger von Giuseppe Sinopoli kam Haitink im Flutsommer 2002 an die Elbe und wurde hier mit einer Überraschung nach der anderen konfrontiert. Erst die Benefizkonzerte im Kulturpalast und auf Deutschland-Tournee, zum Schluss das aus seiner Sicht wohl etwas obskure Wahlverhalten des Orchester für den künftigen GMD Fabio Luisi. Inzwischen dürfte wohl auch hier ein gegenseitiges Versöhnen stattgehabt haben, in seiner Grußbotschaft für den Jubilar erhofft sich Orchesterdirektor Jan Nast jedenfalls sehr, „dass wir Herrn Haitink zukünftig wieder in Dresden begrüßen dürfen.“

Foto: Todd Rosenberg

Wesentlich länger wirkende Verpflichtungen ist Bernard Haitink als Erster Dirigent des London Philharmonic Orchestra, als Musikchef des Glyndebourne Opernfestivals sowie ab 1987 am Royal Opera House eingegangen. Seit 1961 war er Chefdirigent des Concertgebouworkest seiner Geburtsstadt (ursprünglich gemeinsam mit Eugen Jochum) und ist dort vor zwanzig Jahren zum Ehrendirigenten ernannt worden. Ähnliche Anerkennungen erhielt Haitink auch von den Orchestern in Boston und Chicago sowie von den Berliner Philharmonikern und der Sächsischen Staatskapelle.

Allein mit den Dresdnern hat der Nestor eine Handvoll bleibender Einspielungen realisiert, darunter das bereits erwähnte Benefizkonzert sowie Mahlers im Gedenkkonzert zum 50. Jahrestag der Zerstörung Dresdens im Kulturpalast dirigierte »Auferstehungssinfonie«, ferner auch frühere Opernaufnahmen etwa von Beethovens »Fidelio« und dem »Rosenkavalier« von Richard Strauss.

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