„Das Alter klopft an, vielleicht ist auch der Tod nicht mehr fern. Lohnt sich denn dann alles noch?“ Diese düstermatten Zeilen schrieb Peter Tschaikowski mit Ende vierzig (!) am Ende einer viermonatigen Reise durch Europa in sein Tagebuch. Der Komponist hatte in Hamburg Hans von Bülow Beethovens »Eroica« dirigieren hören. Hatte sich in Magdeburg in der Aufführung eines »Tannhäuser« mit „entsetzlichen Sängern und Sängerinnen“ fürchterlich gelangweilt. In Berlin den jungen Richard Strauss getroffen („meiner Ansicht nach gab es noch nie eine empörendere und dabei anspruchsvollere Talentlosigkeit“). In Leipzig mit dem Ehepaar Grieg diniert und in einer Soiree „ein Streichquartett von Busoni, eine Sonate von Brahms und ein Streichquartett von Haydn“ angehört, außerdem Gustav Mahlers Rekonstruktion der Weber-Oper „Die drei Pintos“ beigewohnt. In Lübeck Meyerbeers »Afrikanerin« angesehen. In Prag dem Komponisten Antonín Dvořák eine Fotografie mit einer handschriftlichen Widmung übergeben. Und nun? Bleierne Schwere der Gedanken, Erschöpfung, vor allem der Wunsch nach absoluter Ruhe. Das war die Stimmung, in der die Fünfte Sinfonie entstand, die der Komponist selbst später „zu bunt, zu massiv, zu künstlich, zu lang, überhaupt unsympathisch“ fand. Und die doch heute zu seinen bekanntesten und am meisten aufgeführten Werken zählt.
Heute Abend krönte Tschaikowskis „Fünfte“ ein lang erwartetes Gastkonzert. „Auf den Klang der Wiener Philharmoniker im Dresdner Kulturpalast darf man gespannt sein!“, teaserte die Webseite der Musikfestspiele. Ja, gespannt war ich, und ein paar Reihen hinter mir spitzten der amtierende Chefdirigent des Hauses und sein Erster Konzertmeister die Ohren. Der Palast zeigte sich von seiner besten Seite, wie auch das Publikum: atemlose Stille in den Satzpausen, konzentriertes Zuhören. Das Orchester und der Solist in Prokofjews 2. Klavierkonzert, Yefim Bronfman, gaben zu verstehen, dass das nicht irgendeine Auswärts-Festivalmugge war. Ein fein abgestimmter, runder und ausgewogener Orchesterklang, wunderbar reagierte das Orchester auf den Pianisten, gegenseitig trieb und trug man sich über die virtuosen Klippen dieses frühen Konzerts, und es blieb die Entspanntheit für ein Lächeln hier und da.
Aus der Parkettmitte klang der Saal heute Abend perfekt abgestimmt, die Streicher rund und voll, die Holzbläser wie auf dem Silbertablett, die Hörner glänzten darüber… Allenfalls in der Sinfonie kratzten die Wiener an der dynamischen Schmerzgrenze, die der Kulturpalast hat: ab einem bestimmten Punkt tut’s weh. Es braucht ein gutes Orchester und einen umsichtigen Dirigenten wie Tugan Sokhiev, diese Grenze nicht zu überschreiten. Jubel im Publikum, stehende Ovationen, Dixieland-Feuerwerk im Anschluss – der Abend war gelungen!