Andris Nelsons, Sie werden in diesem Jahr mit dem Gohrischer Schostakowitsch-Preis ausgezeichnet und sind der jüngste Künstler in einer langen Liste namhafter Preisträger. Was bedeutet Ihnen die Musik von Schostakowitsch?
Zuerst einmal bin ich sehr dankbar, diesen außergewöhnlichen Preis nach Künstlern wie Kurt Sanderling, Gennady Rozhdestvensky oder Gidon Kremer entgegennehmen zu dürfen. Obwohl ich – im Gegensatz zu diesen Musikern – erst nach Schostakowitschs Tod geboren wurde, ihn also nicht mehr persönlich kennenlernen konnte, habe ich schon früh eine enge Beziehung zu seiner Musik gespürt. Auch seine Persönlichkeit hat mich von Anfang an fasziniert: Auf der einen Seite der geniale Komponist, auf der anderen Seite ein sehr bescheidener Mensch, der ein schwieriges Schicksal hatte und sehr schüchtern, geradezu unsicher gewesen sein muss. Das ist mir sehr sympathisch, denn ich bin selbst ein eher schüchterner Mensch. Seine Musik ist aber so stark, voller Kraft, Sarkasmus und Humor – dies zeigt eine innere Welt, einen Kosmos, der einem Dirigenten alle Ausdrucksmöglichkeiten bietet. Wenn ich seine Musik dirigiere, dann habe ich das Gefühl, dass mich jemand an die Hand nimmt und sagt: „So, so muss es sein.“ Voraussetzung dafür ist natürlich das intensive Studium der Partituren. Aber bei Schostakowitsch schwingt für mich immer diese mystische Ebene mit.
Mit dem Boston Symphony Orchestra spielen Sie derzeit sämtliche Symphonien von Schostakowitsch auf CD ein. Die bisher erschienenen Aufnahmen wurden mit Grammys geradezu überhäuft …
Ja, dieses Projekt ist mir sehr wichtig, und ich bin der Deutschen Grammophon dafür sehr dankbar. Es ist eine große Ehre, diese Aufnahmen machen zu können, bedeutet aber auch eine große Verantwortung – neben den Symphonien planen wir die Solokonzerte und die Oper „Lady Macbeth von Mzensk“. Immerhin gibt es bereits eine Vielzahl hervorragender Schostakowitsch-Aufnahmen. Die Auszeichnungen, die wir bislang bekommen haben, freuen mich vor allem deshalb, weil sie Schostakowitsch eine Aufmerksamkeit geben, die er unbedingt verdient hat. Diese Preise rufen einem ins Bewusstsein, was für ein genialer Komponist er war und wie wichtig es ist, seine Musik zu spielen. Das gilt genauso für den Preis in Gohrisch.
Herbert von Karajan hat einmal gesagt: „Wenn ich komponieren könnte, dann würde ich komponieren wie Schostakowitsch.“ Könnte dieser Satz auch von Ihnen stammen?
Das ist schwer zu sagen, aber Schostakowitsch ist sicher ein Komponist, dem ich mich besonders nahe fühle. Ich habe immer den Eindruck, dass man zu seiner Welt, zu seinem Denken einen schnellen Zugang findet. Diese Musik spricht einen sofort an, mit all ihren Metaphern – und das ist nicht bei jeder Musik der Fall.
Wann sind Sie zum ersten Mal mit Schostakowitschs Musik in Berührung gekommen? Gibt es ein Erlebnis, an das Sie sich erinnern können?
In den 1990er-Jahren hat das Latvian National Symphony Orchestra mit Thomas Sanderling, der damals Principal Guest Conductor war und Schostakowitsch noch persönlich kannte, viele seiner Symphonien in Riga aufgeführt, darunter auch seltener gespielte wie die elfte, zwölfte und dreizehnte Symphonie. Das hat mich sehr fasziniert, und ich bin immer tiefer in diesen Kosmos eingetaucht.
Haben Sie später als Trompeter im Orchester der Lettischen Nationaloper selbst Werke von Schostakowitsch gespielt?
Ja, einige seiner Symphonien und auch den solistischen Trompetenpart im ersten Klavierkonzert. Gut erinnern kann ich mich zudem an ein Filmprojekt, bei dem wir die Jazz-Suiten, die Suite für Varieté-Orchester und andere seiner „leichteren“ Werke gespielt haben. Das Ganze geschah live zum Film und hat viel Freude gemacht! Schostakowitsch war ja ein unglaublich vielseitiger Komponist. Er hat eigentlich alles komponiert – Symphonien, Kammermusik, Filmmusik, Theatermusik, Musik zu Cartoons… Und bei all diesen Sachen denkt man sofort: Das ist ein Meister, der das komponiert hat. In dieser Hinsicht erinnert er mich sehr an Mozart, auch wenn es sonst wenige Parallelen zwischen beiden gibt.
Einer Ihrer wichtigsten Lehrer und Mentoren war Mariss Jansons. Mit ihm sind Sie quasi in die St. Petersburger Schostakowitsch-Tradition hineingewachsen.
Nach meinem Studium war Mariss mein wichtigster Lehrer. Bei ihm habe ich nahezu zehn Jahre Privatunterricht genommen. Was die Tradition und die verschiedenen Schulen angeht, bin ich nicht ganz sicher: Ich war immer offen für alle Richtungen, habe mir die Moskauer Schule genauso angesehen wie die St. Petersburger. In Mitteleuropa und in Amerika gibt es ebenfalls interessante Schostakowitsch-Traditionen, die in der Regel von russischen Dirigenten begründet wurden. Vielleicht steht mir die Petersburger Tradition besonders nahe. Durch Mariss gab es ja eine direkte Verbindung über seinen Vater Arvid Jansons und Evgeny Mravinsky, der viele von Schostakowitschs Symphonien uraufgeführt hat. Bei Mravinsky hat mich immer der ehrliche, vielleicht auch nüchterne Zugang zu Schostakowitsch beeindruckt. Natürlich spielten dabei eine große Disziplin und Autorität mit eine Rolle. Ich hatte immer das Gefühl, dass Mravinsky um alle konkreten Hintergründe Bescheid wusste, in seinem Musizieren aber über diesen Dingen stand und die Musik nicht politisierte. Andere Künstler wie Mstislaw Rostropowitsch haben Schostakowitsch wahrscheinlich mehr aus dem Blickwinkel der sowjetischen Lebensumstände und Ereignisse interpretiert. Auch das finde ich sehr interessant, und es hat absolut seine Berechtigung.
Der historische Hintergrund ist bei einigen Stücken, etwa der „Leningrader Symphonie“, eigentlich nicht wegzudenken, oder?
Die siebte Symphonie ist wahrscheinlich das Werk, in dem die realpolitischen Dinge am konkretesten greifbar sind. Hier spielt Hitlers Invasion eine Rolle und die Belagerung von Schostakowitschs Heimatstadt Leningrad. Zur gleichen Zeit spürt man in diesem Werk die Verzweiflung darüber, was Stalin seinen eigenen Bürgern antat. Deshalb denke ich, dass Schostakowitsch in diesem Werk, wie auch in vielen anderen, die Tyrannei als solche anprangert. Gleichzeitig kommt hierin ein gewisser Patriotismus zum Ausdruck: Schostakowitsch bekennt sich zu seinem Heimatland und zu seinen Mitbürgern, denen er am Ende ein Zeichen der Hoffnung geben will. Dies wurde häufig als Glorifizierung des Kommunismus gedeutet. Meiner Meinung nach greift diese Interpretation aber zu kurz. Es geht um mehr, um allgemeingültige Dinge – und das unterscheidet Schostakowitsch von vielen anderen Komponisten aus seinem Umfeld. Das Erschreckende ist allerdings, dass die Ängste, die Schostakowitsch in seiner Musik thematisierte, noch heute mehr als aktuell sind. Die Geschichte ist wie ein Zirkel – bestimmte Muster kehren nach einer gewissen Zeit wieder zurück. Wir haben offenbar nichts aus der Vergangenheit gelernt. Auch das führt uns Schostakowitschs Musik immer wieder deutlich vor Augen.
Hatte sich die politische Situation nach Stalins Tod 1953 etwas gebessert?
Das ist ein interessanter Punkt. Natürlich setzte nach Stalins Tod in der Sowjetunion so etwas wie ein „Tauwetter“ ein. In Schostakowitschs Musik ist davon, aus meiner Sicht, aber wenig zu spüren. Ganz im Gegenteil: Ich empfinde die Symphonien Nr. 11 bis 15 als noch düsterer und pessimistischer als die früheren Werke. Selbst in den dramatischen Kriegssymphonien, zu denen die „Leningrader“ gehört, gibt es an irgendeiner Stelle einen Funken Hoffnung, und wenn es nur ein Flageolett ist, das wie ein Lichtstrahl aufscheint. Das findet man in den späteren Werken nicht mehr. Hier geht es um den Tod, verbunden mit einer großen Resignation. Schostakowitsch, dessen Krankheit damals sukzessive voranschritt, war in dieser Hinsicht sehr klar und realistisch. Er glaubte nicht an ein Leben nach dem Tod.
Sie wurden drei Jahre nach Schostakowitschs Tod geboren. Damit gehören Sie wahrscheinlich zur letzten Generation, die die Lebensverhältnisse in der ehemaligen Sowjetunion noch bewusst miterlebt hat. Kommen Ihnen bestimmte Codes, ein bestimmtes Vokabular in Schostakowitschs Musik besonders vertraut vor?
Schostakowitsch war ein überzeugter Kommunist und Patriot. Er glaubte lange an eine bessere Zukunft für sein Land. Das ist in vielen seiner Werke zu spüren. Natürlich ebenso die Perversionen eines aufgezwungenen Optimismus – hier greift Schostakowitsch in der Regel zum Mittel des Sarkasmus oder der Groteske. Ich selbst bin auch mit sozialistischen Idealen aufgewachsen. Als Kind wurde uns im Fach „Staatskunde“ vermittelt, dass Lenin ein großer Mann war, fast so etwas wie ein Heiliger. Ich hatte Pionierabzeichen, und es gab verschiedene Wettbewerbe in der Schule… Gott sei Dank haben mich meine Eltern aber christlich erzogen, und diese spirituelle Bildung ist in meinem Leben bis heute prägend.
In diesem Jahr feiern wir in Deutschland den 30. Jahrestag der „Friedlichen Revolution“ und der politischen Wende. Sie sind seit 2018 Gewandhauskapellmeister in Leipzig, einer Stadt, der in dieser Hinsicht eine besondere Bedeutung zukommt. Setzen Sie dort Schostakowitsch aufs Programm?
Im Moment erarbeiten wir in Leipzig erst einmal sämtliche Symphonien von Anton Bruckner, die ebenfalls auf CD erscheinen. Und natürlich stehen auch andere Komponisten aus der Leipziger Tradition im Fokus: Bach, Mendelssohn, Schumann. Das ist ein reiches Erbe, das wir in Kombination mit Auftragswerken an Komponisten aus unserer Zeit neu beleuchten möchten. Schostakowitsch wird in unserer Programmplanung erst später eine größere Rolle spielen, vor allem im Hinblick auf das Jubiläumsjahr 2025. Immerhin hat das Gewandhausorchester mit Kurt Masur in den 1970er-Jahren den ersten vollständigen Zyklus aller Schostakowitsch-Symphonien gespielt. Das war ein wichtiges Zeichen!
In Gohrisch hat Schostakowitsch 1960 sein achtes Streichquartett komponiert. Ist Ihnen diese Musik vertraut?
Die Streichquartette von Schostakowitsch sind für mich so etwas wie Symphonien en miniature. Schostakowitschs Symphonien waren für eine große Öffentlichkeit bestimmt, in den Streichquartetten hat er vielleicht seine intimste und konzentrierteste Musik geschrieben. Das achte Streichquartett ist natürlich ein ganz besonderes Werk, und ich wusste lange Zeit gar nicht, dass es in Gohrisch entstanden ist. Das ist so etwas wie die Essenz seines Schaffens, auch ein sehr persönliches Werk, was man am Hauptmotiv D-S-C-H erkennt. Ich beherrsche leider kein Streichinstrument, habe das Quartett also selbst nie gespielt. Aber zur Kammersymphonie, die Rudolf Barschai auf Grundlage des Quartetts arrangiert hat, habe ich eine besondere Beziehung: Sie stand auf dem Programm eines meiner allerersten Konzerte als Dirigent, das war mit dem Lettischen Kammerorchester in Riga. Dieses Werk ist wahrscheinlich das erste von Schostakowitsch, das ich jemals dirigiert habe.