„Für die Katholiken ist in dem Stücke, wie es auch geschichtlich war, die ganze St. Barthelemy ein politisches Faktum“, schrieb der Komponist Giacomo Meyerbeer 1837 an seinen Freund Gottfried Weber. Gemeinsam mit dem Librettisten Eugène Scribe hatte er sich einem dunklen Kapitel der französischen Geschichte zugewandt: der Ermordung von etwa 3000 protestantischen Hugenotten während der Hochzeit Heinrich IV. und Marguerite de Valois am 23. August 1572. Das katholische französische Königshaus wollte seine Macht gegenüber den erstarkenden Reformkräften verteidigen. In dieses historische Ereignis ist nach guter Opernsitte eine Liebeshandlung eingebettet, die die politischen Konflikte personalisiert: Die Katholikin Valentine liebt den hugenottischen Edelmann Raoul, ist aber dem katholischen Edelmann Comte de Nevers versprochen. Am Schluss verliert sie alles: ihr Gatte ist tot, sie gibt ihren Glauben auf, verliert den Geliebten und bezahlt mit ihrem Leben.
1970 lernte ich durch einen Dramaturgen die Große Oper »Die Hugenotten« von Giacomo Meyerbeer kennen und war fasziniert von der dramaturgischen Kühnheit des Werkes. Bis dahin wußte ich nur, dass alle Welt diesen Komponisten als eine Null bezeichnete, allen voran Richard Wagner.
Die Ouvertüre besteht aus einer Variationsfolge über den Luther-Choral »Ein feste Burg«, in der der Choral zunächst in beruhigender Ferne vergangener Zeiten erklingt, dann über stilistische Anleihen bei Bach, Rossini und Spontini bis hin zu Meyerbeer in die Gegenwart von 1836 gezogen wird. Mit einer französischen Schallplatte von 1957 sprach ich im Leipziger Opernhaus bei Joachim Herz vor, der von der Dolchweihe im IV. Akt und dem folgenden Grand Duo so fasziniert war, dass er die Oper 1974 inszenierte. Dies waren die Schlüsselszenen des Werkes: die katholische Führung schwört ihre Gefolgsleute auf unbedingten Gehorsam ein, legt die Angriffspläne auf die Hugenotten fest, die die Hochzeit feiern. Dann segnen katholische Priester die Mordwaffen zu einer Musik von schlimmster Pogromstimmung. Im folgenden Grand Duo ist der Hugenotte Raoul, der die Mordpläne versteckt anhören musste, nun zwischen der Pflicht, seine Brüder zu warnen, und seiner Neigung zu Valentine hin- und hergerissen.
Unter den damals beschränkten Bedingungen gelang es, einige Pariser Quellen von gestrichenen Szenen oder Varianten zu erlangen, sodass der Verlag Edition Peters Leipzig eine Bühnenfassung vorlegen konnte, die ich betreute. Die damals gewonnenen Erkenntnisse veranlassten mich, eine moderne Biografie, Berlin 1991/1998/2002, zu verfassen, die sich zur Aufgabe gestellt hatte, auf der Grundlage gesicherter Quellen und aller erreichbarer Dokumente gegen die unglaublichen Fehlurteile und Vorurteile anzutreten.
Zunächst ein großes Lob für den Intendanten der Sächsischen Staatsoper, Peter Theiler, dass dieses epochale Werk nach so vielen Jahrzehnten gründlichen Verschweigens überhaupt wieder einmal auf den Spielplan gekommen ist – und an den Regisseur Peter Konwitschny, der sich gründlich mit dem Werk auseinandergesetzt hat, ihm durch die Kostüme eine gewisse historische Dimension verschafft und, von den Off-MPs abgesehen, keine zwanghafte Aktualisierung angestrengt hat. Nun veranlasst mich jedoch die Kenntnis der Partitur zu einigen Fragen an den Regisseur.
Striche sind völlig legitim – aber…
Konwitschny verteidigt in einem Interview seine Strichfassung, da das Werk sonst über fünf Stunden dauern würde. Was spräche indes dagegen, das Werk komplett zu spielen? In Wagners »Ring« halten alle gläubig aus, gleichgültig, wie lange der Abend dauert. Konwitschny sagte: „Diese Art von Werktreue lehne ich ab, das wäre gegen das Stück“.
Nun, Meyerbeer war einerseits ein kühl kalkulierender und sorgfältig planender Komponist mit einem großen Gefühl für die Gesamtarchitektur seines Werkes, andererseits war er viel zu sehr Praktiker, als dass er nicht selbst Striche vorgeschlagen hätte und sein Werk entsprechend jeder Aufführung an anderen Bühnen angepasst hat. Daher sind Striche völlig legitim. Aber es gibt neuralgische Punkte: Im oben erwähnte Grand Duo, dem Prototyp des „Duetts in Gefahr“, das viele nachfolgende Komponisten übernommen haben, wurde ein brutaler Strich vorgenommen, dem das Allegro moderato, in dem Raoul um seine Fassung ringt, zum Opfer fiel. Damit ist die musikalische und dramatische Architektur empfindlich gestört. Und warum wurde die Arie „Parmi les pleurs“, in der Valentine ihren seelischen Zwiespalt zwischen der Anhänglichkeit an ihren eben vermählten katholischen Edelmann und die verbotene Liebe zu dem Hugenotten Raoul bekennt, vom Beginn des IV. Aktes an den Beginn der nach dem Duo folgenden Szenen (ich vermeide es, vom V. Akt zu sprechen) verlegt, wo sie keine erkennbare Funktion hat? Dann hätte sie auch gestrichen werden können.
Im ersten Teil des IV. Aktes werden die Befehle zur Vernichtung der Hugenotten vom Kommandeur der Garde des Louvre, St. Bris, ausgegeben: eine der großartigsten Szenen der Opernliteratur. Meyerbeer hatte zwischenzeitlich den Einfall, hier die intrigante Königin-Mutter Katharina von Medici auftreten zu lassen, was ihm die Zensur sofort verbot, sodass die ursprüngliche Fassung seines Librettisten Eugène Scribe endgültig wurde. Warum tritt nun in Dresden trotzdem eine trinkfeste zittrige alte Dame auf? Sollte das witzig sein, obwohl es um die Organisation eines Massenmordes geht? Allein die sängerische Durchschlagskraft des St. Bris ist der Gefährlichkeit der Situation angemessen. Ich hatte schon Befürchtungen, dass die Königinmutter auch noch die Befehle für die einzelnen Kommandos ausgibt! Fast bin ich der damaligen Zensur für den Eingriff dankbar, die freilich aus anderen Gründen gehandelt hatte.
Die Befehle aus dem IV. Akt und ihre Folgen sind so eindeutig unheilvoll, dass die Dramaturgie im V. Akt die gewohnten Bahnen Bellinis, Aubers oder Verdis verläßt und nur noch Szenen-Splitter eines katastrophalen Vorgangs bietet. Das hat der Regisseur wohl ebenso gesehen. Aber diese Splitter sind musikalisch aufeinander bezogen und enden konsequent mit dem kurzen Chor der Mörder, der allen Wohlklang wegfegt. Im Original werfen Scribe und Meyerbeer der Prinzessin Marguerite, die vom I. Akt an die streitenden Parteien der Katholiken und Hugenotten durch Liebesheiraten versöhnen will, die Trümmer ihrer Bemühungen vor die Füße. Dieser Auftritt dauert nur Sekunden.
Dafür hätte ein Damen-Chor im II. Akt, in dem der hugenottische Ritter Raoul von den Hofdamen geneckt wird, entfallen können, weil er die Handlung aufhält, und auch im I. Akt wäre noch mancher Strich möglich gewesen, ohne das feine Gewebe der Beziehungen der Personen untereinander zu zerstören.
Warum Marcel krummgeschlagen wurde, hat sich mir nicht recht erschlossen, und auch, warum die Prinzessin Marguerite Raoul, für den sie eine Heirat mit der Katholikin Valentine arrangieren will, auszieht und in die Badewanne zieht? Die Musik ist erotisch genug; Meyerbeer komponierte mit Lebenserfahrung. Eine feinsinnige Personenführung hätte den Überschwang des von der Schönheit der Prinzessin geblendeten Hugenotten ohne grobe Mittel sichtbar machen können. Warum der Comte de Nevers, ein aufrechter französischer Edelmann und gerade mit Valentine vermählt, von St. Bris erstochen wird und die Leiche für den Rest des Tages auf der Bühne liegt, hat sich mir ebenfalls nicht erschlossen, denn es wird ja in der Dolchweihe deutlich, dass er verfemt und ausgeschaltet wird. Zwar liegt Valentine kurzzeitig auf seiner Leiche, aber dann löst sie sich schnell von ihm und beachtet ihn nicht weiter…
Das innere Tempo der »Hugenotten« folgt doch letztlich mit seinen Anschlüssen von Nummer zu Nummer der Dramaturgie des ganzen Stückes. Anfangs frozzeln sich die verfeindeten Parteien, ab dem Finale des II. Aktes nehmen die bedrohlichen Konfrontationen immer mehr zu, die Musik wird brutaler, das Tempo nimmt ab dem III. Akt rasant Fahrt auf. Der sterbenden Valentine gönnt Meyerbeer ganze acht Takte für ihren Abschied, wo Isolde eine halbe Stunden fürs Sterben bekommt. Das ist grandios gedacht und kompositorisch einmalig gestaltet.