Das Gustav Mahler Jugendorchester wird traditionell zur Saisoneröffnung der Sächsischen Staatskapelle Dresden jedes Jahr Anfang September eingeladen. Damit genießen die Dresdner ein volles Konzertwochenende und dürfen zudem den Nachwuchs bejubeln, denn die Konzerte der Sommertour des 1986 von Claudio Abbado gegründeten Jugendensembles warten meist mit großen und großartigen sinfonischen Werken auf, dazu bekommen die Musikerinnen und Musiker exzellente Solisten und Dirigenten, mit denen sie über beinahe einen Monat zusammenarbeiten dürfen.
Das wäre ja schon genug, aber der gestrige Sonntag war überdies besonders, weil man quasi von den Wahlergebnissen, die keine 100 Meter hinter der Semperoper verkündet wurden, in den Kulturtempel umzog und irgendwie die merkwürdige Stimmung von draußen zunächst mit hineinnahm. Und nun „einfach“ ein Sinfoniekonzert? Weiter wie bisher? Der Gedanke verursachte Unwohlsein, gleichzeitig wäre es für das Jugendorchester, das ja zunächst einmal schlicht als Gast in Dresden weilte und mit seiner Darbietung erfreuen wollte, unangebracht gewesen, hätte man Weh und Wehen von draußen womöglich noch verbalisiert mit hineingebracht. Schließlich stand auch kein Geringerer als der 92-jährige Herbert Blomstedt am Pult des Orchesters, der ja erst vor einem Jahr ein Konzert für ein „friedliches Miteinander“ und gegen „die zunehmende Intoleranz und Aggression gegenüber anders aussehenden oder anders denkenden Menschen“ in Leipzig und Dresden mit den Orchestern aus Gewandhaus und Semperoper geleitet hatte.
Doch diesmal sprach die Musik. Und sie erschütterte tief, weswegen der Text hier auch abgedruckt sei, den ein jeder ganz in Ruhe lesen mag, oder sich mit der eindringlichen Stimme von Christian Gerhaher vorgetragen zu Herzen führen sollte. Jegliche Ansprache, jegliche Beschwerde erübrigte sich, als Gerhaher in den Rückert-Liedern zu dem Gedicht „Um Mitternacht“ vordrang, da hatte er schon die ersten beiden Lieder zu kammermusikalischen Perlen gemacht. Blomstedt an seiner Seite kümmerte sich mit dem Orchester um einen durchsichtigen, fast zerbrechlichen Klang, der aber trug. Wer am Sonntagabend dann die Zeilen „Um Mitternacht kämpft ich‘ die Schlacht, O Menschheit deiner Leiden“ von Gerhaher herausgeklagt und ins Rund gemeißelt miterlebt hat, dürfte eine Ahnung davon bekommen haben, was in unseren Tagen wirklich zählt. Und wie kongenial bereits Mahler dieses Nichtmehrschweigenkönnen in Töne gegossen hat.
Christian Gerhaher, seit heute übrigens auch „Sänger des Jahres“ beim Opus Klassik für seine begonnene Schumann-Gesamteinspielung der Lieder, blieb auch in den kommenden Liedern eindringlich und gegenwärtig in seiner Klangrede, oder jemals zu verkünsteln oder den interpretatorischen Zeigefinger zu heben. So berührte „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ mit zutiefst ehrlicher Einsamkeit, gleichzeitig aber auch einer Gelassenheit, die Gerhaher in der Zugabe mit dem Urlicht – „O Röslein rot“ aus Mahlers 2. Sinfonie zwingend fortsetzte.
Nach der Pause, in der sich viele Zuhörer ob des Gehörten erst einmal sammeln mussten, stand dann eine Art lichtes Weiterblicken auf dem Programm, wenngleich von mächtiger Statur: Anton Bruckners 6. SinfonieA-Dur gilt als die feinste und kleinste im Rund der neun Sinfonien des Komponisten. Sie spielt sich aber keinesfalls von selbst und benötigt auch eine motivierende Hand, die quasi die Licht- und Schattenspiele des Stücks aufdeckt. Herbert Blomstedt ist ja quasi ein Bruckner-Doyen, zuletzt hat er alle Sinfonien mit dem Gewandhausorchester eingespielt und auch am Sonntag lag blomstedttypisch die geschlossene Partitur auf dem Pult, nicht aus Sicherheitsgründen, sondern in der freundschaftlichen Verbundenheit, dass der Komponist mit seinen Noten auch tatsächlich anwesend ist.
Nach einigen GMJO-Gastspielen in Dresden, wo zwischen Strauss und Schostakowitsch maximale Phonstärken und Besetzungsgrößen gefragt waren, ging es in diesem Konzert tatsächlich eher filigran zu, was aber die Jugendlichen kaum weniger herausforderte. Exzellente Solistinnen und Solisten bekam man hier in vielen Passagen der Sinfonie zu hören, so in den Oboen und am Englisch Horn wie auch im Hornquintett und an den ersten Pulten der Streicher – wie immer international besetzt und diesmal mit einem großen Frauenanteil im Orchester, was hoffentlich auch von mir nun zum letzten Mal überhaupt erwähnt wird, weil es bitte endlich der Normalzustand, auch in den Berufsorchestern, sein sollte.
Interessant war, dass Blomstedt die Kontrabässe nach hinten, sogar hinter das Blech sortierte, sich somit satter Bass-Sound von oben ergab. Diese Entscheidung gemeinsam mit einer ungewöhnlichen Aufstellung auf einzelnen Etagen – das Orchester wirkte wie in einem Setzkasten aufgereiht – sorgte für ein insgesamt ungewöhnliches und eher zerfallendes akustisches Gesamtbild, denn ausgerechnet die Holzbläser, etwa auf Etage vier sortiert, waren zwar mittig gesetzt, aber hatten damit eine Insel-Position inne, in denen wichtige gemeinsame Blöcke mit den anderen Instrumenten zerfaserten. Bis auf den letzten Satz, der auch von Blomstedt freier genommen wurde, bekam man den Eindruck dann nicht los, dass alle aufgrund dieser Position genug mit der Homogenität und der Perfektion zu tun hatten, damit schwang das Stück nicht wirklich frei, obwohl eigentlich alles „saß“.
Schließlich verwunderten auch einige Passagen, etwa der freiligende Horneinsatz im 3. Satz oder eine ähnliche Posaunenstelle im 4. Satz, die Blomstedt schlicht laut spielen ließ, ohne dies in die viel feinere Faktur der Umgebungstakte einzubinden, hingegen schnurrten vor allem die Themen des Scherzos und im Finale in schwingender Leichtigkeit. Ob man die Sechste nun tatsächlich mit 74 Streichern spielen muss, sei dahingestellt – doch wichtiger erscheint die Chance für die vielen Jugendlichen, einmal überhaupt mit dem großen Herbert Blomstedt musizieren zu dürfen. Und die Dresdner waren über den erneuten Auftritt des Ehrendirigenten der Staatskapelle Dresden so begeistert, dass sie am Ende in die schon bekannte Jubelparty des Orchesters einstimmten – standing Ovations!
Friedrich Rückert
Um Mitternacht
Um Mitternacht
Hab‘ ich gewacht
Und aufgeblickt zum Himmel;
Kein Stern vom Sterngewimmel
Hat mir gelacht
Um Mitternacht.
Um Mitternacht
Hab‘ ich gedacht
Hinaus in dunkle Schranken;
Es hat kein Lichtgedanken
Mir Trost gebracht
Um Mitternacht.
Um Mitternacht
Nahm ich in Acht
Die Schläge meines Herzens;
Ein einz’ger Puls des Schmerzens
War angefacht
Um Mitternacht.
Um Mitternacht
Kämpft‘ ich die Schlacht
O Menschheit deiner Leiden;
Nicht konnt‘ ich sie entscheiden
Mit meiner Macht
Um Mitternacht.
Um Mitternacht
Hab‘ ich die Macht
In deine Hand gegeben:
Herr über Tod und Leben,
Du hältst die Wacht
Um Mitternacht.