„Revue oder Operette?“, wurde Egon Friedell Mitte der zwanziger Jahre gefragt, und antwortete, die Revue habe der Operette voraus, dass sie aufrichtig sei: „sie macht nicht einmal den Versuch zu so etwas wie einer Handlung und gibt offen zu, daß es nur auf die Beine ankommt.“ Was Alfred Polgar noch illustrierte: „Girls erscheinen in vielen Verkleidungen. Als Bridgekarten, Edelsteine, Blumen, Zigarrensorten, Schnäpse, Zeitungen, Schmetterlinge, Briefträger, Soldaten, Spielzeug, Volkslieder, Gemüse und dergleichen (…) Das Wichtigste aber (…) sind die Beine, das eigentlich lebenswichtige Organ der Girls, der gliederreiche, in vielen zarten Scharnieren bewegliche Sendeapparat, der erregende Wellen in den Zuschauerraum schickt.“ Wer das hundert Jahre später liest, fragt sich unwillkürlich, was die Revue, dieses rein auf Vergnügung, Enthemmung und alle Arten schwanzgesteuerter und alkoholischer Räusche angelegte Unterhaltungsformat, uns heute bedeuten kann. Durch welche Brillen und Filter wir sie sehen, ob sie uns das überhaupt geben kann, was sie groß gemacht hat, und wenn ja, wie?
Die neue Revue »HIER und JETZT und HIMMELBLAU«, ein Auftragswerk der künstlerisch runderneuerten Staatsoperette, trägt den Versuch einer Antwort ja schon ein bisschen im Titel. Grandios schiefgegangen wäre es wohl, hätte das künstlerische Team um den Regisseur Jan Neumann und die Dramaturgen Kathrin Kondaurow und Heiko Cullmann einfach ein paar ältere Revue-Reißer aus dem Köcher gezogen, in eine bunte Kulissenwelt gestellt und durch ein paar aktuelle Texte verknüpft. Gilt es doch vor allem auch, mit dieser Revue den neuen Anspruch des Hauses deutlich zu machen! Wie das die Dramaturgen versucht haben und wie es am Ende geglückt ist – meine Güte, ein Befreiungsschlag aus dem verquasten Drumherumdrücken der letzten Inszenierungen am Haus und seinem „Es hätte niemandem genützt, wenn ich das Haus leergespielt hätte“. Neumann, Kondaurow und Cullmann haben mit Hilfe des Bühnenbildners Cary Gayler und der Kostümbildnerin Nini von Selzam gezeigt, wie’s geht: einen lustvollen Abend auf die Bühne gestellt, der vor nichts haltmacht, in dem vieles hinterfragt und über den Haufen geschmissen wird, in dem wir die kalten Neonröhren der Hinterbühne sehen, die Garderobengespräche der Sängerin heimlich mithören und uns in die verschiedenen Besucher der Revue hineinfühlen dürfen. Dieser Abend ist „hier und jetzt“, es geht ungeschminkt um Alkoholabhängigkeit, Monatshygiene, um Geburt und Tod, um die Gaskammern, die Stasi und „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen“-Plärrer. Das ist niemals belehrend, diese Bilder sind mitfühlend gezeichnet, die Texte nachdenklich und vieldeutig. Und gleichzeitig, gleichzeitig!, suchen wir mit den Künstlern auf der Bühne nach den immerwährenden Wahrheiten, den zeitlosen Gefühlen, und dürfen auch ein bisschen über uns selbst lachen – und weinen.
Dass der Abend musikalisch funktioniert, ist vielen zu danken. Wir fangen mit dem Orchester unter Andreas Schüllers Leitung an: schmelzend, singend, berauschend! Wie verwandelt klang es aus dem Graben am Samstag, als wären den Musikern über den Sommer die eisernen Bänder um ihre Herzen krachend zersprungen. Ein Chor, einstudiert von Thomas Runge, der schwierige zeitgenössische Nummern wie »A Tear« aus Sven Helbigs »Pocket Symphonies« blitzblank in den Raum stellte. Und Sängerinnen und Sänger, die den Ernst der Lage wie das glucksende Lachen auf dem ersten Blind Date gleichermaßen überzeugend machten – und wie nebenbei herrlich, herrlich sangen! Herbert G. Adami, der Holländers „Wenn ich mir was wünschen dürfte“ als schütterer Millionär bedrückend unsentimental interpretierte. Jeannette Oswald als festangestellte Fotografin des Vergnügungsschuppens, die alle möglichen Lebenslagen aus der Operette »Eine Frau von Format« (Michael Krausz, 1927) Revue passieren lässt und wie „Nebenbei“ dem
schwulen Pärchen, das hinter ihr am Springbrunnen turtelt, ein Kondom zusteckt. Und – für mich der schauspielerische und sängerische Höhepunkt – nein, nicht Bryan Rothfuss als Conférencier, sondern Dimitra Kalaitzi in ihren Rollen als angebetete Sprechstundenhilfe, als Klofrau und – „C’est ça la vie, c’est ça l’amour“ – als Viviane aus »Toi, c’est moi« (Moisés Simons). Viele der Arrangements übrigens stammen vom Wahldresdner Sven Helbig, von dem eben auch zwei der kleinen »Taschensymphonien« erklingen. Die zweite – »Gone« – steht als einzige Nummer etwas verloren im Raum, wird von Radek Stopkas Ballett klassisch vertanzt, wobei diese Choreographie sich augenscheinlich aus dem „Hier und Jetzt“ ganz ernsthaft und naiv in eine gute, alte Zeit zurückwünscht. Na, auch das muss erlaubt sein.
Das alles war so erfrischend, so ehrlich und doch mit so viel Herz und Schmerz und Liebe gemacht, dass das Publikum Tränen lachte und den einzelnen Nummern juchzend Applaus spendete. Uns ist daher um die Zukunft des Hauses nicht ganz so bang wie all denen, die in den letzten Monaten die Fähigkeiten der neuen Intendantin in Zweifel zogen, über ihre ersten Entscheidungen maulten („Schon wieder ein neues Logo?“) und fürderhin keinen gelben Pfifferling mehr auf die gute alte Staatsoperette geben mochten. Sie alle wurden mit der Spielzeiteröffnungsfeier ins hier und jetzt gesaugt. Und ein bisschen himmelblau darf das Leben trotzdem hin und wieder sein. In der Nacht braucht jeder Mensch nun mal ein kleines bisschen Liebe!