Nach 22 Jahren verlässt der amtierende Orchesterdirektor der Sächsischen Staatskapelle seinen langjährigen Wirkungsort und geht nach Wien. Der Zeitpunkt könnte für das Orchester nicht schwieriger sein: nächste Woche könnte es passieren, dass die Musiker aus ihrer österlichen Festspielheimat Salzburg vertrieben werden. Im Gespräch mit Martin Morgenstern zieht Jan Nast nun Bilanz.
Jan Nast, Ende August veröffentlichte die Staatskapelle eine Pressemeldung, in der sie bekräftigte, das Orchester wolle den bis 2022 laufenden Vertrag mit den Osterfestspielen gern erfüllen. Zwischen den Zeilen las sich das als „Egal, wie der Streit zwischen Thielemann und Bachler ausgeht – wir wollen gern bleiben“. Verstehe ich das so richtig?
Völlig richtig. Wobei eine Konstellation ohne Christian Thielemann natürlich schwierig werden würde. Unsere Hoffnung ist groß, dass die Staatskapelle in Salzburg bleiben kann, aber wir sind in diesem Streit nicht die Akteure. Der teilweise falschen Berichterstattung von Journalisten, die darüber nachdachten, ob Bachler nun lieber die Leipziger oder die Berliner hätte, wollten die Musikerinnen und Musiker der Staatskapelle entgegensetzen: Mit uns gibt es einen laufenden Vertrag.
Keine drei Stunden später meldeten sich die Osterfestspiele allerdings per eigener Meldung: die Anstellung des Orchesters hinge tatsächlich von einem Rahmenvertrag ab, der wiederum mit dem Chefdirigentenvertrag mit Christian Thielemann verknüpft sei. Also: ohne Thielemann keine Staatskapelle.
Der Rahmenvertrag ist nochmals gesondert zu betrachten. In ihm ist geregelt, in welcher Form die Sächsische Staatsoper als Kooperationspartner der Osterfestspiele agiert. Mit Peter Ruzicka wurde der derzeit gültige Rahmenvertrag geschlossen. Das eigentliche Streitthema ist nun: Mit Nikolaus Bachler und Christian Thielemann haben die Osterfestspiele zwei Leiter, beide haben in gewissem Sinne künstlerische Verantwortung. Das ist für solche Festspiele auch ganz normal – und man geht im Allgemeinen davon aus, dass sich Chefdirigent und Intendant konstruktiv einigen.
Am 17. September wird der Aufsichtsrat über diese Pattsituation entscheiden müssen. Was erwarten Sie für einen Ausgang?
Die Position der Kapelle ist dabei nicht einfach und der Ausgang offen.
Und was erwarten Sie für einen Ausgang, Thielemann und Bachler betreffend?
Ich will die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich die Wogen glätten. Ständige Konfrontationen würden den Osterfestspielen nicht gut tun. Bei aller künstlerischer Freiheit die wir in Salzburg genießen, darf man nicht vergessen: Ein Intendant trägt die wirtschaftliche Verantwortung.
All das werden Sie, Herr Nast, dann eher aus der Entfernung beobachten, denn nach 22 Jahren als Orchesterdirektor verlassen Sie die Staatskapelle. Wieviel können Sie mir denn über die Gründe dieser Entscheidung verraten?
Es sprechen ja viele über das Personalkarussell, das sich seit einiger Zeit bei der Staatskapelle und auch an der Oper dreht. Das wirft natürlich Fragen auf. Andererseits muss man schon auch sagen, dass es eher ungewöhnlich ist, dass es auf meiner Position über lange Jahre eine große Kontinuität gab. Dass es Wechsel gibt, ist auch andernorts durchaus üblich. Nun dreht sich dieses Karussell einfach auch in Dresden, sicher aber schneller als jemals zuvor.
Was sind in Ihrem persönlichen Fall die Gründe für Ihren Weggang?
Ich denke, dass ich für mich sagen kann, dass es ein Privileg war, so lange bei der Staatskapelle gewesen zu sein. Mit 31 Jahren habe ich diese Stelle bekommen, und als gebürtiger Berliner hatte ich es am Anfang auch nicht einfach. Ältere Kollegen haben mir damals – wenn auch liebenswert – mitgeben, dass sie sich niemals hätten vorstellen können, dass einmal ein Preuße Direktor der Dresdner Staatskapelle wird. Ich habe also gemerkt, dass ich an einen Ort komme, wo Tradition eine unglaublich große Rolle spielt.
In all den Jahren habe ich versucht, die Kapelle in ihrer Bedeutung mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen: mit der Aufführung von Komponisten, die lange vernachlässigt wurden, mit der Wiederbelebung der Uraufführungstradition und mit dem Engagement herausragender Solisten. Die Funktion des Capell-Compositeurs hat sich schön entwickelt. Und für mich ist die Kooperation mit dem Gustav Mahler Jugendorchester, einem der besten internationalen Nachwuchsorchester überhaupt, enorm wichtig. Über die Entwicklung der Giuseppe-Sinopoli- Orchesterakademie bin ich glücklich, da wir dadurch Nachwuchs für die Kapelle und andere Spitzenorchester ausbilden können.
An bestimmten Orten wollten wir permanent Präsenz zeigen, aber ich war auch immer neugierig: so haben wir uns zum Beispiel Abu Dhabi erobert. Mein Versuch, das Orchester nach Pjöngjang zu bringen, ist leider gescheitert. Aber das Chinageschäft ist bis heute sehr erfolgreich. Das waren freudige Herausforderungen, mit dem Tourveranstalter Jiatong Wu waren wir seit 2011 jedes Jahr dort.
Einen kleinen Misston dürfen wir nicht unerwähnt lassen: der Wechsel der »Klassik Picknickt«-Veranstaltung in die Junge Garde hinterließ bei vielen Dresdnern Fragezeichen. Bei Ihnen auch?
Das »Klassik Picknickt«-Format in der Jungen Garde fand ich schön, aber es ist eben nicht das Picknick auf der Wiese, das sich die Dresdner wünschen. Dennoch versuchen wir das Format am Leben zu erhalten. Immerhin hatte es auch in diesem Jahr 2500 Zuschauer.
Wäre es denn vorstellbar, dass man 2020 zurück auf die Wiese wechselt?
Ich habe über den Sommer wahrgenommen, dass sich die Gläserne Manufaktur neuerdings sehr stark bei Dynamo Dresden engagiert. Da kann man nur spekulieren, wie das Engagement mit der Staatskapelle weitergeführt wird. Seit zwei Jahren ist die Volkswagen AG Wolfsburg der Sponsoringpartner der Staatskapelle, nicht mehr die Gläserne Manufaktur.
Was hat sich sonst in den letzten Jahren bei der Staatskapelle geändert? Und noch mal, was waren die Gründe für Ihren Weggang?
Die Situation der Staatskapelle hat sich in vielen Punkten in den letzten Jahren sehr verändert. Es gibt wirtschaftliche Schwierigkeiten des Hauses: Das Konzert an sich hat intern nicht mehr die Bedeutung von einst. Heute müssen wir diskutieren: ist eine »Barbier«-Vorstellung oder eine »Giselle« für das Haus besser als ein Symphoniekonzert? Mit diesem Thema sind wir immer mehr konfrontiert. Mit der Anzahl der Proben, mit der Möglichkeit, Sonderprojekte oder Werkstattkonzerte durchführen zu können. Das empfinde ich als extreme Einschränkung auf dem Weg einer weiteren Entwicklung des Orchesters.
Wo ist bei alldem die gewichtige Stimme des Chefdirigenten für seine Musiker?
Christian Thielemann macht seine Programme, laut Vertrag sind das üblicherweise vier Konzertprogramme pro Jahr. Dazu kommen ein, zwei Tourneen. Und die bereits angesprochenen Osterfestspiele. Dass man es im Orchesteralltag mit anspruchsvollen Künstlern zu tun hat, ist allen Beteiligten klar. Und als Orchesterdirektor sitzt man dann zwischen allen Stühlen.
In seiner Dresdner Zeit hat Christian Thielemann bis heute sieben Assistentinnen und Assistenten gehabt. Nacheinander. Sagen Sie mir jetzt nicht, da wäre eine kontinuierliche Arbeit im Orchestermanagement möglich gewesen.
Man kann es sicher so beschreiben, dass die Zusammenarbeit im Haus mit den wichtigen Entscheidungsträgern, und das sehr wohl im Plural, eher schwieriger wurde. Und die Entfaltungsmöglichkeiten wurden immer mehr beschnitten.
Von Ihrem Weggang wurden die Musiker der Kapelle dennoch offenbar kalt erwischt. Niemand hätte das erwartet, die Pressemeldung…
…klang fast wie ein Nachruf, ja, da haben Sie recht. Die Musiker waren getroffen, natürlich. Sicher, ich habe auch über die Jahre ordentlich Gegenwind von ihnen bekommen, Musiker haben ja auch Egos. Aber dass ich wirklich weggehen würde, hat niemand erwartet, da wohl auch jeder merkte, wie weit ich mich für sie engagierte und mit dem Orchester identifizierte. Nun ist man auf der Suche nach einem Nachfolger. Ich hoffe, es wird rasch eine Entscheidung geben.
Sie waren auch Geschäftsführer der Staatskapelle GbR und der GmbH, die sich mit PR und Vermarktung befasste. Haben Sie all diese Ämter jetzt niedergelegt?
Ja. Diese Positionen habe ich alle zu Ende September gekündigt.
„Ich sehe die Grenzen der Entwicklung erreicht“
Was erwartet Sie nun ab Oktober in Wien?
Ein großes Konzertorchester mit 130 Planstellen, mit viel größerem Management. Ein Orchester, das sich entwickeln möchte, dass aus dem Schatten des großen Bruderorchesters zurecht hinaustreten möchte. Unter den Musikern sind viele junge Leute. Das hat mich überzeugt. Und ich habe die Uraufführungsliste des Orchesters gesehen: Zemlinsky, Schreker, Korngold, Neunte Bruckner… Karajan war hier Chef, Sawallisch, Luisi… Luisi ist übrigens nach langer Zeit dieses Jahr erstmals wiedergekommen, er hat ein ganz tolles Verdi-Requiem mit den Symphonikern gemacht.
Und was werden Ihre Ziele sein?
Es geht mir auch in Wien darum, die Bedeutung des Orchesters wieder stärker in die Öffentlichkeit zu bringen. Vor allem konzeptionell können wir dort besser arbeiten als bei den Philharmonikern, die ja kommerzieller denken müssen. Dank der öffentlichen Förderung können wir andere Schwerpunkte setzen, von der Wiener Klassik über die Zweiten Wiener Schule bis zur Gegenwart. Und, die Welt ist ja klein, wissen Sie, wer im Theater an der Wien ab 2022 Intendant wird? Herheim! Auf diese Zusammenarbeit freue ich mich sehr. Im Beethovenjahr gibt es zum Beispiel eine Neuproduktion des »Fidelio« unter der Regie von Christoph Waltz.
Wird es auch in Wien demnächst »Symphoniker ohne Frack« geben?
Das Orchester hat in dieser Richtung schon viele Aktivitäten, die werden wir weiter kanalisieren. Es gibt zum Beispiel einen Sinfoniker-Tag. Oder die Grätzl-Konzerte, das sind kommunal geförderte, moderierte Stadtteilkonzerte, in Lagerhallen, Kulturhäusern, Ballsälen… Du merkst: die sind auf Zack.
Wenn Sie nun auf 22 Jahre Dresden zurückblicken: was ist Ihr Fazit?
Das Urproblem der Staatskapelle, das mich all die Jahre begleitet hat, ist die Grundkonstruktion des Orchesters als Opernorchester an der Sächsischen Staatsoper. Dass die Kapelle, die ja mit ihrer 472-jährigen Geschichte eine ganz eigene Persönlichkeit neben der Operntätigkeit entwickelt hat, nun wie ein Spartenorchester behandelt wird. Mit viel Aufwand, mit viel Idealismus kann man in Dresden etwas bewegen. Aber der Job ist schwieriger geworden. Ich sehe die Grenzen der Entwicklung der Staatskapelle für mich momentan erreicht.