Nichts scheint der leidenschaftlichen Irrationalität der Oper ferner als die nüchternen Glaspaläste europäischer und nationaler Verwaltungsarchitektur. Und doch entscheidet sich Laura Scozzi in ihrer Inszenierung von Rossinis »Il viaggio a Reims« genau für diese gebaute Leidenschaftslosigkeit. Natacha Le Guen de Kerneizon und Isabelle Girard-Donnat haben ihr eine sterile, weiße Bürolandschaft auf die Bühne der Semperoper gestellt, an der Rossinis beschwingte Koloraturen und hektischer Sprechgesang spurlos abgleiten sollten, mit sich selbst und dem Ort fremdelnd – und doch eröffnen sich gerade in dieser Spannung erheiternde Widersprüche und tiefe Einsichten in Werk und unsere chaotische europäische Gegenwart.
»Il viaggio a Reims«, nahezu 200 Jahre alt, erlebt in dieser beglückend geglückten Inszenierung, seine Dresdner Erstaufführung. Warum es wohl so lange gedauert hat, bis diese Ansammlung musikalischer Preziosen des populären Italieners ihren Weg nach Dresden fand? Es mag zum Teil mit der handlungsarmen Struktur des Gelegenheitswerkes zusammenhängen: ein Haufen europäischer Adlige stecken in einem Hotel fest und können es kaum erwarten, nach Reims zur Krönung des Bourbonenkönigs Karl X von Frankreich weiterzureisen. Rossini nutzt diese Nichthandlung in einem Akt für ein Feuerwerk aus Arien, Duetten, Ensembles und Finali in 26 Szenen. In aller Schnelle für die Krönungsfeierlichkeiten für eben diesen letzten aller Bourbonen auf dem französischen Thron komponiert, diente es Rossinis als Einstand am Pariser Théâtre-Italien, dessen Leitung er zu finanziell äußerst lukrativen Bedingungen gerade erst übernommen hatte. Der König selbst wohnte der Uraufführung bei und Rossini bot ihm einen Abend der Stars des Théâtre-Italien. Allein in den Hauptrollen bot er drei Soprane, eine Altistin, zwei Tenöre und vier Bässe auf, nebst Chor und Ballett und einem Orchester mit namhaften Solisten.
Rossinis Koffer voller Bravourstücke steht nun also in einer äußerst variablen Einheitsbühne, die sich vom Sitzungssaal ins Großraumbüro, vom Fernsehstudio zum Flughafen mittels Drehbühne rasant verwandeln kann. Statt eines Hotels ist hier die politische Verwaltung der Europäischen Union mit ihren Beamten, Parlamentarierinnen, Lobbyisten und Diplomatinnen, die zwischen Brüssel, Straßburg und ihren Heimatländern ständig hin und her reisen, die Durchgangsstation, das ständige Provisorium, in dem man Herberge sucht und sich doch nie ganz zu Hause fühlt. Die Hauptfiguren versuchen, diesen Apparat am Laufen zu halten und wollen doch eigentlich nur weiter, wollen weg und arbeiten sich gegenseitig an den Widersprüchen europäischer Identitäten ab. Sie sind die Beamtinnen und Entsandten der Mitgliedsstaaten: privilegiert, aber auch verloren in diesem Betrieb. Gegen den normierten Bürolook in allen Schattierung des Farblosen begehren sie auf mit knalligen Accessoires, mit orangen Stiefeln, grüner Bluse, violettem Kragen. Die subtil witzigen Kostüme von Fanny Brouste lassen einen immer wieder schmunzeln und erzählen von der Normiertheit im modernen Büroalltag und dem Versuch, sich als Individuum zu behaupten und zugleich normgerecht zu vermarkten.
Laura Scozzi komplimentiert diese verlorenen Bürokraten mit einem Ballett europäischer Spitzenpolitiker. In grotesken, die Proportionen verschiebenden Gummimasken geistern da Tänzer als Angela Merkel, Emmanuel Macron, Vladimir Putin und Boris Johnson über die Bühne. Auch die Queen ist immer wieder mal mit von der Partie. Sie veranstalten einen Politzirkus, der laute Lacher provoziert und oft ans Politkabarett grenzt. Laura Scozzi schichtet so Handlungen und Parallelaktionen auf den verschieden Ebenen der Bühne; ein aberwitziger Reigen, dem man kaum zu folgen vermag. Die realistische Spielweise der Sänger, fern von allem Opernhaften, bricht sich an dem grotesk überzeichneten Bewegungsvokabular der tanzenden Maskenpolitiker. Videoprojektionen zeigen aktuelle Nachrichten wie den Protest der französischen Gelbwesten oder auch die inszenierte Ereignishaftigkeit von Liveschalten – Edgardo Rocha als russischer Graf von Libenskof singt vor einer blauen Wand direkt neben dem Orchestergraben und wird mittels Bluescreen-Verfahren mit dem Kreml im Hintergrund auf die Hauptbühne projiziert. All dies steht temporeich in der Gattungstradition des Dramma giocoso.
Zu dieser dichten szenischen Schichtung gesellt sich eine permanente Doppelbödigkeit des Textes. In guter Operntradition spricht das Libretto von den großen heroischen Gefühlen – Rossini und sein Librettist Giuseppe Luigi Balochi nehmen hier zum Teil ironisch die Opera Seria aufs Korn. Bei Scozzi ergibt sich hieraus zum Teil eine verfremdende Unsicherheit und die Frage, wem oder was dieser Pathos eigentlich gilt. Verzehrt sich da Georg Zeppenfeld als Lord Sidney, als Vertreter Großbritanniens auf gepackten Umzugskisten sitzend, wirklich nur nach der Gesangskünstlerin Corinna oder doch auch nach der Europäischen Union, als deren Allegorie Corinna im blauen Kleid mit Sternenkranz immer wieder auftritt—bevor die Queen aus der Kiste springt und in einem Striptease dieses suchende, frei flottierende Begehren auf sich zieht. Bei dem russischen Conte di Libenskof und der polnischen Marquise Melibea (Maria Kataeva) wird die versuchte Liebeswerbung nicht nur zu einer Allegorie des geopolitischen Tauziehens zwischen Putins Russland und Polen auf dem Weg zum EU-Mitglied (das Beitrittsjahr wird auf der Bühne projiziert), sondern auch zu einer beklemmenden Szene sexualisierter Gewalt im Arbeitsalltag, die die Debatten um #Metoo ins Bewusstsein gebracht haben. Diese inszenierte Dichte wechselt also zwischen urkomischen Spielszenen, Volkstheater, Revue, Allegorie, politischer Satire, Farce und psychologisch durchdachten Verhaltensanalysen. Hier passt eigentlich nichts zusammen – und doch gelingt Laura Scozzi eine Vielschichtigkeit intelligenter Unterhaltung, die man selten auf der Opernbühne findet.
Diese szenische Glanzleistung findet ihre Entsprechung in der musikalischen Stärke des Abends. Ein solch herausragendes und homogenes Ensemble hört man selten. Die Semperoper hat auf ein vornehmlich junge Sänger gesetzt, und all diese Namen sollte man sich merken. Das zentrale Gran pezzo concertato für 14 Stimmen raubt einem schlicht den Atem, ein musikalischer Glücksmoment mit Gänsehaut. Iulia Maria Dan als Herrin des Hotels singt witzig, sonor, verführerisch. Tuuli Takala glänzt in der Rolle als modische Pariserin mit warmen Timbre. Elena Gorshunova als Corinna gestaltet ihre Partie als EU-Allegorie mit musikalischer Wandlungsfähigkeit. Maurizio Muraro singt seine Katalogarie zum Gepäck der Reisenden mit viel Witz, während hinter ihm die Flughafen-Trolleys über die Bühne gefahren werden. Der Chor begeistert mit Leichtigkeit und Spielfreude. Die Kapelle spielt, als wäre sie in Italien und Rossini ihre heimliche Liebe, und verdankt dies dem klugen Dirigat von Francesco Lanzilotta. Beethovens Ode an die Freude, die nach der Pause konzertant aus dem Graben erklingt, wird in der Rossini Besetzung zu einem nuancenreichen, kammermusikalischen Ereignis, ganz fern vom üblichen Pomp der Europahymne, eher eine Erinnerung an die Utopie eines geeinten und friedlichen Europas. Alles in allen ein musikalisches Erlebnis, das von der Spielfreude und Musikalität aller Beteiligten getragen wird.
Am Ende des Abends tritt ein Tänzer im Lilienmantel und grotesk verzerrter Maske auf die Bühne. Der Geist der alten Monarchien, diesen Ahnherren der Nationalstaaten, zwing die Europaallegorie Corinna eine Lobeshymne auf die Lilienmonarchie zu singen und reißt ihr die Europasterne von der Brust. Die erzwungen Panegyrik gestaltet Elena Gorshunova als einen Blick in den Abgrund, einen Schwanengesang auf Europa und die Demokratie. Aktivisten stürzen auf die Bühne und werden mit Polizeigewalt niedergeprügelt. Karl X betrieb die Restauration nach der Französischen Revolution, und sollte der letzte der Bourbonen auf dem französischen Thron werden, sein Schatten, wie auch die vielzähligen historischen Konflikte dieses europäischen Kontinents durchziehen diesen Opernabend, und man fragt sich, wie dieses Projekt eines geeinten Europas je funktionieren kann. Selten finden solch tiefgreifende Fragen unsere Gegenwart ihren Weg auf die Opernbühne. Und selten wird in einem Opernhaus so viel gelacht und nachgedacht. Viel zu selten.