»Follies« von Stephen Sondheim ist ein wichtiges, aber schwer vermittelbares Stück Musicalgeschichte. Nachdem Sondheim ein Jahrzehnt mit dem Stoff gerungen hatte, inszenierte es der heute legendäre Regisseur und Produzent Harold Prince 1971 am Broadway, wo es erfolgreich lief, aber die Produktionskosten am Ende sämtliche Gewinne auffraßen. Nach der deutschen Erstaufführung vor fast dreißig Jahren wurde es hierzulande nie wieder gespielt.
Das Stück beginnt mit einem ungewöhnlichen Alumnitreffen: die ehemals schönsten und biegsamsten Girls, die der legendäre Impresario Weismann (grandios unaufgeregt geschauspielert: tjg-Ruheständler Roland Florstedt) vor dreißig Jahren für sein Varieté verpflichtet hatte, sind nun in der Welt verstreut. Für ein erstes und letztes Jubiläumstreffen versammeln sie sich an ihrer einstigen Spielstätte und lassen die gute alte Zeit Revue passieren. Zwei der Girls haben ihre Ehemänner mitgebracht: Sally (Frederike Haas) ihren guten alten Buddy (Christian Grygas) und die fesche Phyllis (fan-TAS-tisch: Franziska Becker) ihren permanent untreuen Beau Ben (Marcus Günzel). Diese Ausgangssituation würde eigentlich einen schönen, nostalgisch gefärbten Bäumchen-wechsel-dich-zum-Happy-End-Abend hergeben. Nichts da! Sondheim schenkt sich und dem Publikum nichts und dringt in immer tiefere psychologische Schichten ein, befragt Karrieren, lässt Lebensentwürfe in Rauch aufgehen und treibt seine Figuren zum Äußersten. Und, ja, dazwischen dürfen wir uns immer mal bei einer humorvollen Nummer erholen. Nach der Pause jedoch geht jeder Handlungsfaden verloren, und wir stecken in einem Zwist fest, den Sally, Ben, Buddy und Phyllis zunehmend aggressiv austragen. Die anderen Girls und ihre sentimentalen Geschichten (Bettina Weichert etwa singt eine trotzig-charmante Carlotta, »Bin noch hier«, und erntet dafür Jubelstürme) sind jetzt beinahe vergessen. Der Abend gipfelt in vier „Follies“, in vier verrückten Wunschträumen der Protagonisten, bevor ein Epilog das ganze Beziehungsgebäude abrupt abräumt. Ende offen.
An der Staatsoperette kommt das Regieteam um Martin G. Berger, der die Gesangs- und Zwischentexte übersetzte und in eine aktualisierte Fassung bringt, mit einer kleinen Notlüge aus, um das schwierige Stück auf Dresdner Verhältnisse zuzuschneiden. Die wird geschickt per Video vorbereitet. Wir sehen die vier Hauptpersonen – und das ist ein fantastischer Effekt, der den Abend und die Publikumserwartung subtil lenkt – vor der alten Leubener Staatsoperette stehen. Während die vier durch die maroden Räume schlendern, leben ihre Alter Egos aus Vorwendetagen wieder auf. Wie Geister huschen sie durch das Haus, lassen die einstige Operettenseligkeit erahnen und nehmen auch schon Anlauf auf das komplexe Beziehungs- und Abhängigkeitsgeflecht der vier. Und schon hat man die kleine Lüge geschluckt: dass nämlich, so behauptet es fortan der Text, die beiden jungen Burschen einst zu den Garderoben der landesweit berühmten „Girls“ hochschauten, sich die Treppe hoch zu ihnen sehnten… Die Anspielungen auf osttypische Kulinarika etc. gelingen fast alle geschickt. Allenfalls fällt da ein allzu banales Bühnenbild von Sarah-Katharina Karl aus dem Rahmen, das die glücklich-naiven Sally, Buddy, Phyllis und Ben einstiger Tage (Florentine Beyer, Gero Wendorff, Florentine Kühne, Claudio Gottschalk-Schmitt) in zwei tuckernden Trabis vor der Silhouette der Frauenkirchenruine zeigt.
Grundsätzlich aber gelingt die Schichtung der Broadway-Story, der Staatsoperetten-Geschichte und der allgemeinen Vorwende-Nachwende-Thematik sehr überzeugend (die Intendantin Kathrin Kondaurow fungiert gemeinsam mit Heiko Cullmann als dramaturgisches Zweierteam). Die beiden inzwischen altgedienten Operettensolisten Grygas und Günzel verblassen ein ganz kleines bisschen vor der schauspielerischen und stimmlichen Wucht Franziska Beckers und Frederike Haas‘ psychologischer Durchdringung der Sally. In diesen Frauenfiguren, etwa auch in Stefanie Dietrichs Stella (noch so eine atemberaubende Einzelleistung), scheint auf, was am neuen Haus an darstellerischem und stimmlichem Niveau zu erwarten ist. Wie hypnotisiert ist das Publikum zeitweilig, und honoriert die zahlreichen, wirklich fantastischen Leistungen der Sängerinnen und Sänger, auch der Tänzerinnen und Tänzer (Choreographie: Marie-Christin Zeisset) mit Jubelschreien und Klatschen.
Das Orchester unter Peter Christian Feigel setzte die nicht einfache Musik gekonnt und farbenreich um, ging rhythmisch mit und bot manches Mal fast ein bisschen zu viel an, wo der Textverständlichkeit eine geschmeidigere, aber vielleicht doch zurückhaltendere Lesart der Partitur gutgetan hätte. Es ist schon ein Wahnsinnsstück, diese »Follies«, die eigentlich »The Girls upstairs« heißen sollten. Verdammt undankbar in seiner Bruchstück- und Sprunghaftigkeit, aber so herrlich komplex in seinen Harmonien, Klangfarben und den Personenzeichnungen. Keine Frage: die neue Dresdner Inszenierung hat das Zeug zum Kultstück.
Wieder am 5., 6., 21., 22.11., am 28. und (Restkarten) 29.12. und dann wieder im neuen Jahr.