Daniel Thiele, man kennt Sie in Dresden als sehr umtriebigen Musiker – neben Ihrer festen Stelle bei der Philharmonie haben Sie in den letzten Jahren noch Barockcello bzw. Viola da Gamba in Weimar studiert und widmen sich mit dem »Freien Ensemble Dresden« abseitiger, auch viel zeitgenössischer Musik. Und jetzt erfahre ich durch einen Vortrag an der SLUB, dass Sie ein passionierter Sammler und Liebhaber alter Schellackaufnahmen der Philharmonie sind!
Manchmal fällt einem einfach etwas vor die Füße: vor einiger Zeit habe ich gelesen, dass Paul van Kempen in den Jahren 1939-1942 einige Aufnahmen für die Deutsche Grammophon mit den Dresdner Philharmonikern gemacht hat. Das ließ mich aufhorchen. Prompt wurde ich bei Recherchen in den üblichen Internetantiquariaten fündig und habe einfach immer zugegriffen, sobald sich eine Möglichkeit ergab. Nebenbei erwarb ich noch einen restaurierten Plattenspieler mit Wechselnadel und war nach einigem Feinjustieren überrascht, welch ein differenzierter Klang aus einer 80 Jahre alten Schellackplatte kommen kann! Diese Aufnahmen unter van Kempen sind ein wichtiges Zeugnis der Qualität des Orchesters.
Van Kempen wurde wurde 1893 in Holland geboren, studierte Komposition und Geige. 1934 wurde er der Nachfolger von Werner Ladwig bei der Dresdner Philharmonie und blieb bis 1942. Können Sie seine Bedeutung für das Orchester in dieser Zeit beschreiben?
Es ist schwer abzuschätzen, wie sich die Dresdner Philharmonie unter ihm entwickelt hätte, wenn es den 2. Weltkrieg nicht gegeben hätte. Das ist sehr spekulativ. Jedenfalls war das Orchester zu dieser Zeit ohne Zweifel qualitativ an der Spitze der Deutschen Orchester, was allein die vielen Aufnahmen unter van Kempen bei dem Top-Label Deutsche Grammophon belegen. Es muss eine faszinierende Zeit gewesen sein, wenn man berücksichtigt, welche Dirigenten und Komponisten nach 1900 regelmäßig mit der Dresdner Philharmonie verbunden waren. Als erstes deutsches Orchester bereisten sie damals Nordamerika!
Für das Digitalisierungsprojekt spielt nun ein Tonmeister der SLUB die alten Platten, die 1939 bis 1942 aufgenommen wurden, ab und bearbeitet die Aufnahmen nach, so dass wir ein möglichst rausch- und störungsfreies Klangbild erhalten. Von welchen Werken sprechen wir eigentlich?
Es geht um zwanzig Werke: Operetten-Ouvertüren wie zum Beispiel »Die schöne Galathée« von Franz von Suppé, Opernouvertüren wie die zum »Fliegenden Holländer« von Richard Wagner, Sinfonische Dichtungen von Franz Liszt wie »Mazeppa«, Sinfonien wie die »Unvollendete« von Franz Schubert und Konzerte wie das Mozartsche Klavierkonzert d-moll KV 466 mit Wilhelm Kempff.
Politisch ist van Kempen nicht ganz einfach einzuordnen. 1932 nahm er die deutsche Staatsbürgerschaft an; unter den Nazis wurde seine Karriere aber bald behindert. Nach dem Krieg galt er in seiner niederländischen Heimat allerdings als Kollaborateur, seine Konzerte wurde ausgebuht – könnte man das so umreißen?
Das ist tatsächlich vielschichtiger. Der Berliner Musikhistoriker Albrecht Dümling wird in einem Beitrag zu der neuen Publikation anlässlich des 150. Bestehen der Dresdner Philharmonie diese Fragen ausführlich und differenziert beleuchten.
Ich bewundere Ihre Sammlerleidenschaft – aber die tatsächlichen Interpretationen, die der Tonmeister Nathanael Wendt aus den alten Platten geschält hat und jüngst bei einer Konferenz vorspielte, haben mich ehrlich gesagt nicht beeindruckt – weder vom Orchester her noch vom Cellisten Enrico Mainardi. Abgesehen von der Qualität der Einspielungen, was zum Beispiel die Intonation der Bläser angeht, die sicherlich auch technischen Einschränkungen unterlag: man konnte ja nicht endlos verschiedene „Takes“ aufnehmen, alles musste auf den Punkt abgerufen werden. Kurz gefragt, was fasziniert Sie an den Aufnahmen über den orchestergeschichtlichen Aspekt hinaus?
Natürlich ist hier zu differenzieren. Zum Beispiel hat das erwähnte Cello-Konzert von Antonin Dvorak mit Blick auf das Solocello keinen Referenzcharakter. Was jedoch die Leistung des Orchesters respektive Dirigenten bei den großen sinfonischen Zwischenspielen dieses Werkes angeht, widerspreche ich Ihrer Bewertung ausdrücklich! Ich höre hier das Orchester sehr brillant, es spielt auf den Punkt zusammen und besticht mit herausragenden solistischen Leistungen (Horn, Flöte, Konzertmeister). Hier gilt es, mit den Aufnahmen der Zeit zu vergleichen und nicht den CD-Klang von heute als Maßstab anzuwenden. Da kann sich das Dresdner Orchester absolut mit dem Berliner vergleichen, mit dem Paul van Kempen in dieser Zeit ebenfalls Werke aufnahm.
Mich faszinieren diese Aufnahmen jedoch noch aus einem anderen Grund. Jede Plattenseite musste ja als ein einzelnes Take mit der Länge von reichlich vier Minuten aufgenommen werden, so war es technisch bedingt vorgegeben. Um zur Sicherheit mehrere Matrizen zu erhalten, wurde das gesamte Take mehrfach aufgenommen. Was das in Bezug auf Konzentration und physische Leistung für das Team und die Orchestersolisten bedeutete, ist heute kaum nachzuvollziehen. Ein Mehrwert der Digitalisierung wird nun darin liegen, die Aufnahmen in guter digitaler Qualität ohne den Plattenwechsel hörbar zu machen. Damit kann jeder Hörer eine akustische Zeitreise antreten.
Ein anderer Aspekt macht diese Aufnahmen für Musiker besonders wertvoll: die Interpretationen der Werke von Johannes Brahms, Dvorak, Liszt, Wagner usw. sind hier quasi lebendig geblieben. Die zum Zeitpunkt der Plattenaufnahmen im Orchester wirkenden Musiker sind so nahe an den Quellen gewesen, wie wir es uns heute nur erträumen können. In diesem Bewusstsein die Interpretation der elementar aufwühlenden »Holländer«-Ouvertüre von Wagner, die feinen Stimmungen der »Nußknacker«-Suite von Peter Tschaikowski oder die humorvoll sinnlichen ungarischen Tänze von Brahms zu hören, ist eine unschätzbare Bereicherung.
Was ist eigentlich die früheste Aufnahme der Philharmonie, die wir kennen? Wird sie Teil des Digitalisierungsprojekts sein?
Da bin ich mir nicht sicher; es gibt wohl in den Rundfunkarchiven noch einige sehr frühe Mitschnitte. Da laufen momentan viele Aktivitäten an verschiedenen Stellen.
Vielen Dank für das Gespräch!